“Bruckners Sechste”
“Per aspera ad astra“ (Durch die Nacht gelangt man zum Licht)
Bruckners Sechste Symphonie (1879–1881) zeigt eine schöpferische Enge zu der Vierten und der Fünften, während die Unterschiede zu den kommenden drei letzten Werken zu erkennen sind, und sie leitet eine neue Haltung in Bruckners Schaffen ein.
Mit seiner Sechsten beginnt Bruckner seine dritte Schaffensphase, die die Zeit bis zu seinem Tode einnimmt.
Die Meinungen sind mal wieder gespalten (wie immer bei großen Schöpfern); die einen sehen die Sechste eher als eine Fortführung der Vierte und Fünfte, während man auch eine Verknüpfung mit der kommenden Siebten und Achten erkennen will.
Bruckners Sechste - ein Streitfall ?
Nur eines wird daraus klar und ist es bis heute, die Sechste wird einen Sonderstatus bekommen.
Wenn man die Bombastizität der Fünften, vor allem im Finale, sieht, das kaum überbietbar erscheint, musste jetzt etwas her, was Alternativen aufzeichnet, eine Art “Notwendigkeit von Kontrasten” wodurch die Wirkung der Fünften (als Vorgänger) und der hier zu besprechenden Sechsten gesteigert werden sollte.
Die Arbeit mit ganzen Themengruppen wird stark verringert, der Schöpfer arbeitet mehr mit ihren Bestandteilen Rhythmus, Gestus, Tonhöhe, Impuls, Einzelmotivik in Kombination und hat dadurch ein größeres Spektrum an Kombinationsmöglichkeiten oder spielt diese auch gegeneinander aus.
Er zerlegt thematische Gebilde in ihre Bestandteile, um daraus neue Themen zu entwickeln (ich hoffe, es stimmt).
Die Sechste fällt auf nicht nur durch ihre Kürze (58:00 h), sondern auch durch die Tatsache, dass sie nicht umgearbeitet worden ist (!), dass Bruckner also mit ihr von Anfang an zufrieden war (was selten der Fall war).
Außerdem kann man die Sechste als Start in die Zeit der späten Anerkennung und Schätzung des Symphonikers Bruckners sehen, was für die naïve Person des Komponisten wichtig war.
Wiederum fehlen von Bruckners Seite jegliche Erläuterungen oder schriftliche Festlegungen zur Gattungsbezeichnung oder Angaben von Inspirationsquellen.
Zu diesem Zeitpunkt 1877/78 hatte sich die materielle Situation Bruckners stabilisiert.
Er hatte (mietfrei) eine ansehliche Wohnung in Wien bezogen und hatte auch finanziell bessere Perspektiven und eine bessere Lebensqualität (als ordentliches Mitglied der Hofkapelle).
Es war aus dem einst armen Organisten (Zitat R. Wagner) ein schon kapitalträchtiger Bürger Wiens geworden.
Dieses bot eine wichtige Basis auch für sein symphonisches Schaffen, nur die Anerkennung auf symphonischen Gebiet fehlte noch.
Am besten erkennt man die Art der Sechsten, wenn man sie mit der Vierten und Fünften vergleicht und sich gewisse Unterschiede vergegenwärtigt.
Bruckners Vierte (“Die Romantische”) zeichnet sich durch eine starke Leuchtkraft aus (Thematik : Natur-Romantik, Naturklang), während die Fünfte wesentlich strenger und herber wirkt.
In der Sechsten existieren mehrere Haltungen nebeneinander und es scheint, dass der Schöpfer hier eine Art Ausgleich schaffen wollte für die auseinanderstrebenden Merkmale der beiden vorhergehenden Werke, aber mit diesem Werk auch nach vorne sehen und gehen wollte.
Farbenhören
Dass bestimmte Musiktöne mit bestimmte Farbtöne gleichzusetzen sind, ist heute bewiesen.
Dieses deutete auch schon Richard Wagner in einer Anmerkung (1853) zum Vorspiel seines “Lohengrin” an, wo er das Erscheinen Lohengrins mit den Worten bezeichnete “…in klarsten, blauen Himmelsäther…” (hier ist wieder gewisse Fantasie gefragt).
Anzusehen als ein erstes Andeuten für die Wissenschaft sich diesem Phänomen (Farb-Ton) stärker zu nähern.
Der Mystiker
Zeitweise wurde in späteren Jahren Bruckner als großer Mystiker gefeiert, was ja nicht so ganz abwegig ist (es ist ja kein Missbrauch, sondern eine Deutungsmöglichkeit).
Viele Anhänger der Brucknerschen Musik glaubten in der Sechsten ein sattes, strahlendes Leuchten zu erkennen (ist natürlich Ansichtssache), woraus man die Grundfarben des Werkes erkennen könnte.
Quasi wie eine Palette schillernder Klänge.
Dieses trifft allerdings bei näherem Hinhören eher im 1. Satz (Majestoso) zu, die Binnensätze weisen weniger “Leuchtkraft” auf.
Der Kopfsatz (1. Satz) ist für brucknersche Verhältnisse mit 16 Minuten eher “kurz”, im Vergleich dazu ist der 1. Satz der Fünften mehr als 5 Minuten länger.
Eine alles andere als gradlinig verlaufende Entwicklung im Finale muss die Leuchtkraft erst erkämpfen.
“…per aspera ad astra”
„Per aspera ad astra“ (Durch Nacht zum Licht) – dieses scheint Bruckner bei der Konzeption des Kopfsatzes vorgeschwebt zu haben, auch wenn es schwer ist, hinter die Fassaden großer Schöpfer zu blicken und dieses oft Deutungssache ist.
Dieses lateinischen Zitat wird allerdings auch benutzt als Deutung eines qualvollen Weges zu einem Ziel, was ja bei Bruckners Weg zum Durchbruch und zum Verständnis seiner Werke durchaus angebracht ist (“Durch Mühsal gelangt man zu den Sternen”).
Notenbeispiel 1 : Sechste Symphonie, 1. Satz, Str., T. 245–250.
Die Kühne
Aber warum nennt man Bruckners Sechste seine “Kühne”, bzw. warum hat er dieses Werk selber als die “Kühne” bezeichnet (Briefverkehr) ?
Bruckner gehört in seiner Zeit zu den progressivsten (fortschrittlich steigernd) Komponisten.
Leider hat man dies in seiner Zeit von Seiten der Kritiker, Neider und Gegner und auch von Seiten der allgemeinen Hörerschaft verkannt, bzw. (noch) nicht erkannt.
Die Modernität seiner Tonsprache wurde einfach nicht verstanden.
Die Kühnheit seines Schaffens erkannte die wissenschaftliche Welt erst lange Jahre später, eine Kühnheit in Erweiterung der Tonalität und in der Schaffung eines neuen Klangkosmos (Klangraum), einen lebendigen Klang, eine Experimentierfreudigkeit mit Tönen und Farben mit einem Abweichen von normalen Regeln, was sich schon in den immensen Dimensionen seiner Symphonien zeigt.
Dieses erinnert an die monumentalen Musidramen Richard Wagners, die (bis heute) Viele Abstand nehmen läßt.
Wenn die großen Werke Anton Bruckners und Richard Wagners nicht kühn sind, was ist denn dann (?), wer davon nicht fasziniert ist, der ist von gar nichts fasziniert, wessen Fantasie dies nicht anregt, den läßt alles kalt. Die Werke sind eben wahre Kunst, die für die Menschheit geschaffen und die ewig sind.
Der Magier und Mystiker
*Majestoso A‑Dur (1. Satz)
Mit einer Spieldauer von 16 Minuten fällt der 1. Satz für brucknersche Verhältnisse normal aus.
Dieser Kopfsatz hat einen geheimnisvollen Anfang, einen untypischen Beginn, was einen erwartenden Effekt auslöst und dadurch mit Vorstellungen in den Satz hineinführt (meine Interpretation).
Im Gegensatz des Entstehens der Musik aus dem Nichts beginnt der 1. Satz klar formuliert mit einer Eintonrhythmik.
Es zeigen sich weniger große Themengruppen, eher Themenkomplexe (Bestandteile).
Bruckner zerlegt thematische Gebilde in Ihre Bestandteile, um neue Themen zu entwickeln.
Geschickt gemacht Herr Bruckner, so bekommt das Werk mehr Farbigkeit und Breite, genau wie mehr Vielseitigkeit.
Das erste Thema besteht aus widerstreitenden Kräften kombinierbar und ausweitungsbar.
Das zweite Thema ist ein ruhiger lyrischer Melos, den Bruckner “Gesangsperiode” nannte (der Gesang als reinste Form des musikalischen Instrumentes).
Das dritte Thema ist eher “stampfend” (Unisono-Orchester), ein eher energischer Charakter.
Der erste und dritte Themenkomplex wird durch große Farbigkeit gekennzeichnet.
Die Hauptthemen sind phrygisch (kirchentonale Züge) geprägt und gefärbt.
Der Höhepunkt der Durchführung (Exposition – Durchführung – Reprise) fällt mit der Wiederkehr des Hauptthemas zusammen.
Was viel “Drive” ergibt, ist die Tatsache, dass man ein nahezu ohne Unterbrechungen gebremstes Bewegungsmodell (Drehstruktur) hört, was den Fluss der Musik aufrecht hält (ähnlich Wagners Idee der “unendlichen Melodie”).
Vorwürfe von Chaos und keinerlei musikalische Logik zeigen sich in der kommenden Ausführung des Kopfsatzes als widerlegt (höchstens im Scherzo).
Zeitgenössische Kritiker erkannten damals noch nicht seine progressive Art zu komponieren und Bruckners Blick nach vorne, sowie seine Kunst der musikalischen Gestaltung.
Kühnheit für Neues
*Adagio (2. Satz)
“Sehr feierlich” (Tempoangabe)
Auch das langsame Adagio der Sechsten repräsentiert den Typus der feierlichen Musik mit liturgischer Erhabenheit.
Die Architektur dieses 17 minütigem Adagios unterscheidet sich wesentlich von dem der Fünften.
Die drei Themenkomplexe des Satzes kontrastieren zueinander stark.
a) feierlicher Streichergesang (Ton der Klage – Oboe)- 1. Thema
b) beseelten Aufschwung – ekstatischer Aufschwung – 2. Thema
c) Trauermarsch (trauermarschartigen Charakter). – 3. Thema
Bruckners kontrapunktische Meisterschaft ist durchaus erkennbar.
Es treten Motive auf, die schon bereits im Kopfsatz erschienen sind und als “Leitmotiv” beide Sätze emotional zu verknüpfen scheinen.
Die Sprachlickeit des feierlichen Adagio steht eher dem Religiösen nahe.
Aber welche religiöse Bedeutung hat dieses Adagio ?
Wiederum kann man dies nur erahnen, da Bruckner außer minimalen Hindeutungen sich nicht ausgiebiger hierüber äußerte.
Bruckners Adagios, so auch das der Sechsten, haben eine ungeheure Melancholie, die tiefe emotionale Welten für den Hörer öffnen kann (was natürlich individuell zu sehen ist).
Dieses religiös anmutende Adagio klingt wie eine Traum-Sequenz aus.
*Scherzo (3. Satz)
“Nicht schnell” (Tempoangabe Scherzo)
“Langsam” (Tempoangabe Trio)
Ganz neue Züge weist das acht minütige a‑Moll-Scherzo auf.
Es wirkt nicht tanzhaft wie die meisten früheren Scherzi, sondern eher abwegig.
Es hat nichts Ländliches und nichts Bäuerisches, keine ländlerartige Melodie.
Es wirkt eher wie dahinhuschende Bilder ohne durchgehenden Ablauf, oftmals schon leicht chaotisch und spukhaft.
Kontraste zwischen leise hinhuschenden Partien und starre Stellen werden ersichtlich. Oftmals wirkt es schon leicht verwirrend.
Kein Geradeaus, im Gegenteil eher musikalische Widersprüche.
Ein Tanz ? – wohl eher nicht.
Es entsteht kein Stillstand, machmal erscheint es bedrohlich und unheimlich – ein Erfahren und kein Erdenken.
Das TRIO im Scherzo wirkt langsam, zerpflückt und fragmentarisch und hat wenig Ablauf.
Es erscheint keine idyllische Rückblende, wie bei früheren Trios.
Bei diesem Scherzo könnt man den Begriff “Kühn” abermals verwenden.
In gewisser Art und Weise läßt dieses ungewöhnliche Scherzo das Scherzo der Neunten vorausahnen.
“Durch Seltsamkeit fesselndes Scherzo”
(Kritik damaliger Rezensenten)
Markante Musik – Markantes Gesicht
*Finale (4. Satz)
“Bewegt, doch nicht zu schnell” (Tempoangabe)
Schroffe Kontraste bestimmen schließlich die Gestaltung des 15minütigen Finales.
Der 4. Satz lebt von sehr abrupten Wechsel der Lautstärke – es zeigt sich eine Vermeidung von Zwischenstufen, da sonst die Spannung verloren geht.
Die Spannung wird allerdings von einer terrassendynamische Abstufung auch von selbst hervorgerufen.
Mehrfache Wiederholungen einzelner Themen lassen eine Einprägsamkeit aufkommen.
Der strikte Hinweis Bruckners zum Tempo (“Bewegt, doch nicht zu schnell”) zeigt sein Bedenken, dass man verführt werden kann, das Finale zu schnell zu spielen.
Durch Bruckners Erfahrungen mit dem Orgelklang scheint die Idee der notwendigen Verlangsamung entstanden zu sein, denn Bruckner hatte ja nun mal von seiner Chronologie her mehr Erfahrungen mit Orgelkompositionen als mit Symphonien, mit denen er recht spät begonnen hatte.
“Der Gesang als Wesen der Musik” – dieser Leitspruch und Grundsatz ist von zentraler Bedeutung, dadurch sind langsame Sätze am besten verständlich.
Für Bruckner war das Tempo von entscheidender Bedeutung, dadurch ist auch zu erklären, dass es zu (fast) allen Sätzen Tempoangaben gibt.
Was in der Literatur wenig Erwähnung findet, ist die Tatsache, dass der Bauplan der Sechsten und der Neunten durch vorausschauendes Arbeiten Bruckners ähnlich sind.
Man erkennt eine eher unauffällige Rückbindung des Finales an den Beginn der Symphonie. Das Finale ist formal parallel zum 1. Satz gebaut.
“Per spera ad astra“ ist wie bereits oben erwähnt, zweifellos die Devise des 4. Satzes.
Dieser Satz wirkt eher irdisch als metaphysisch, Außenbezüge liegen allerdings wie (fast) immer bei Bruckner im Ermessen des Rezipienten.
Eine Parallele zu Bruckners Schweizreise von 1880 zu finden, ist gewagt und eher hypothetisch.
Die Symphonie schließt prachtvoll.
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RESÜMEE
Von allen Bruckner’schen Symphonien kann man die Sechste als die konzentrierteste, heroischeste und tapferste bezeichnen.
Auch die Uraufführung des ungekürzten Werks im Jahre 1901 in Stuttgart wurde begeistert aufgenommen.
Dennoch konnte sich die Sechste auf den Konzertbühnen nicht recht durchsetzen.
Wie die Erste wird auch sie noch heute relativ selten gespielt.
Bruckner selbst war freilich mit diesem Werk recht zufrieden, es existiert nur eine Fassung (!)
Auf alle Fälle ist sie eins, nämlich kühn !
CD-Tipp :
“Sämtliche Symphonien No.1–9“
Valery Gergiev – Münchner Philharmoniker
Label : MPhil DDD, 2017–2019
Erscheinungstermin : 20.11.2020
Aufnahme aus der Stiftsbasilika St. Florian / Linz
9 CD-Box mit hochwertigem Booklet
*eingefügte Grafiken hauptsächlich entnommen aus
(https://www.abruckner.com)
*Gewisse Passagen meines Beitrages wären nicht möglich
ohne teilweise Übernahme und Rückgriffe aus Fachquellen
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