“Wiederauferstehung”
Es gibt Werke, die gelten lange Jahre als verschollen.
Der Schöpfer hielt sie für nicht veröffentlichswert oder sie hatten keinen Erfolg, sodass sie nach ihrer ersten Aufführung verschwanden oder vielleicht sogar vom Schöpfer selbst teilweise vernichtet wurden oder im Falle der “Zaira” von Bellini “ausgeschlachtet” und in Teilen oder Nummern in folgenden Werke benutzt wurden.
Es kann also sein, dass der Schöpfer Teile wegwirft oder andere Teile verschenkt, oder sie verstauben in irgendwelchen Schubladen von Museen oder Konservatorien.
Die Liste solcher Werke ist zu lang, als dass man sie hier auflisten könnte, bzw. viele sind kaum oder gar nicht bekannt.
Allerdings ist es auch möglich, dass das Werk erst urlange Jahre oder Jahrzehnte später “uraufgeführt” wird und man denkt, dass es ein neues Werk des einstigen Schöpfers sei, was natürlich ein Fehlurteil ist, weil der Schöpfer schon lange tot ist.
Das zu besprechende Werk ruhte sage und schreibe 185 Jahre in der Versenkung, bis es ans Tageslicht kam.
Gaetano Donizetti (1797–1848)
Wie bereits erwähnt, studierte Vincenzo Bellini in einem Konservatorium (Conservatorio San Pietro a Majella di Napoli) als Kommilitone.
In diesem Konservatorium in der Altstadt Neapels entdeckte im Jahre 2019 eine Musikwissenschaftlerin in der Bibliothek Notenfragmente über “Lucrezia Borgia” von Gaetano Donizetti mit dem Titel “Dalinda” eine Bearbeitung des Werkes “Lucrezia Borgia”.
Wie man weiss, ist ja nun das Unergründete oft reizvoller, als das voll Ergründete.
Somit machte sich diese Musikwissenschaftlerin (Eleonora Di Cintio) an eine mühevolle Aufgabe.
Sie sammelte alles in aufwendiger Kleinarbeit Stück für Stück aus verschiedenen anderen Archiven und Bibliotheken, um somit das komplette Werk (“Dalinda”) zu regenerieren und für die Menschheit wieder zugänglich zu machen.
Es sollte wieder ein vollständiges Werk werden, was ja oftmals auch anzweifelbar sein kann (sh. Bruckner “Neunte”) und nicht unbedingt komplett der Wahrheit entsprechen muss.
Trotzdem ein Unterfangen, das im Falle eines so bedeutenden Belcanto-Komponisten wie Gaetano Donizetti schon einen faszinierenden Reiz hatte.
Dalinda
Erst einmal fällt auf, dass der Librettist dieses Werkes Felice Romani ist, mit dem kein geringerer als Vincenzo Bellini sieben Werke in “Teamarbeit” schuf.
Ein bekannter und geschätzter Librettist der damalige Zeit, der für verschieden Komponisten die Textbücher schrieb.
Das Werk “Lucrezia Borgia” sollte im San Carlo in Neapel zur Aufführung gebracht werden, zumindesten hatte Donizetti sich das so gedacht.
Nur kommt im Leben vieles anders, als man es sich wünscht.
Die Zensur machte ihm einen Strich durch die Rechnung.
Mehrfach versuchte der Schöpfer das Werk zu “entschärfen” und jedesmal bekam es auch einen neuen Namen, nur keine Version kam durch.
Die Überprüfung der Zensurbehörde ließ die Werke nicht zu.
Der letzte Versuch das Werk aufzuführen war “Dalinda”, aber es sollte nicht sein und somit verschwand das gesamte Werk in den Archiven.
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Synopsis
“Dalina” ist ein 3‑Akter mit 8 Szenen (auf der CD in 17 Szenen aufgeteilt) von knapp über 100 Minuten.
Ort und Zeit der Handlung : In den Gärten Emessas und auf der Burg
Alamut, Persien, zur Zeit des 3. Kreuzzugs.
*1. Scene (1. Akt)
In den Gärten von Emessa findet ein Fest statt zum Waffenstillstand der Franken mit den Sarazenen nach einem 3 Jahre dauernden Krieg.
Die Franken Ubaldo, Ugo, Garniero, Ridolfo und Guglielmo und Ildemaro kommen auf Dalinda zu sprechen, die sich als Mörderin von Angehörigen zeigte.
Ugo d’Asti berichtet von einem Traum von Dalinda, der ihm als bedrohlich erschienen war… Ildemaro glaubt es nicht und legt sich lieber schlafen.
*2. Scene (1. Akt)
Dalinda erscheint verschleiert und erkennt Ildemaro als ihren Sohn aus einer früheren Beziehung. Beim Beobachten wird sie von ihrem Mann Acmet und Elmelik gesehen, die Ildemaro für Dalindas Liebhaber zu erkennen glauben.
Nach dem Erwachen Ildemaro erkennt er Gefühle für Dalinda.
Ildemaro zeigt Dalinda einen Brief von seiner Mutter, den er immer dabei habe.
Dalinda liest den Brief, und hofft, dass er eines Tages seine Mutter treffen könne.
Freunde entdecken beide und reißen Dalinda den Schleier herunter und geben an, dass sie Nachkommen von Verwandten seien.
*3. Szene (2. Akt)
In der Burg stellt Elmelik den Franken Acmet vor. Dieser lädt sie ein, mit ihm den Frieden zu feiern.
*4. Szene (2. Akt)
Es werden zwei Krüge mit Wein vorbereitet, einmal normaler Wein und einer mit vergifteten Wein, um die fränkischen Ritter zu vergiften.
Es wurde ja Dalinda von diesen der Schleier herunter gerissen.
Ildemaro wird als Liebhaber von Acmet vermutet und soll als erster sterben.
*5. Szene (2. Akt)
Ildemaro wird von Acmet gefangen genommen und wird in den Palast gebracht.
Durch das Wegreißen des Schleiers will Dalinda dessen Tod.
Ildemaro wird hereingeführt – Dalinda vergibt ihm und bittet um sein Leben.
Acmet will aber Rache und wirft Dalinda vor Ildemaro zu lieben.
Sie wählt unter Druck die Tötung Ildemaros durch Gift.
Ildemaro hatte lange Acmets Vater das Leben gerettet.
Acmet will mit Ildemaro Freundschaft trinken.
Dalinda gibt vor, den vergifteten Wein einzuschütten, schüttet ihm aber ein Gegengift ein.
Durch das Gegengift gelingt Ildemaro durch Dalindas Hilfe die Flucht.
*6. Szene (3. Akt)
Bei Nacht ist Ildemaro mit einem Diener Dalindas in einem Garten.
Prophezeiungen Ugos kommen in Erinnerung und Ildemaro kommen ein paar Fragen hoch zu Dalindas Verhalten und er segnet Freunde und Mutter.
Ildemaro erhält einen Brief mit der Handschrift seiner Mutter, die ihn bittet das Schloss zu verlassen, er versucht sie allerdings im Schloss zu finden.
*7. Szene (3. Akt)
Die Sarazenen und die fränkischen Ritter feiern des Nachts die wiedergewonnene Freundschaft.
Ildemaro und Ugo trinken gemeinsam und Ildemar bittet ihn seine Mutter zu suchen.
Dalinda kann sich rächen, als die Ritter umzingelt werden.
Ugo, Ubaldo, Garniero, Ildemaro, Ridolfo und Guglielmo haben den vergifteten Wein bekommen.
Nachdem alle herausgeführt werden, bleiben Mutter und Sohn alleine zurück.
8. Szene (3. Akt)
Vom Gegengift hat Ildemaro noch etwas und will es mit seinen Freunden teilen, sonst würden sie alle zusammen sterben und sie mit dazu.
Mit einem Messer will er Dalinda töten, die ihm mitteilt, dass sie seine Mutter ist.
Dalinda fleht vergeblich Ildemaro an, dass Gegengift zu trinken.
Das Gift zeigt langsam bei Ildemaro Wirkung und er bittet sie um Verzeihung.
Acmet kehrt zurück und sie offenbart ihm, dass sie einen christlichen Sohn hat und weiß, dass dies für sie den Tod bedeutet.
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Änderungen
Der Handlungs-Zeitraum ist nun in “Dalinda” nicht mehr in der italienischen Renaissance, sondern auf der Burg Alamut zur Zeit des 3. Kreuzzugs (1190).
Namenswechsel : aus Lucrezia Borgia wurde Dalinda, aus dem Sohn Gennaro als fränkischen Ritter wurde Ildemaro, aus Alfonso d’Este wird der persische Fürst Acmet.
Hierbei ist zu beachten, dass sich das Verhältnis Mutter-Sohn verändert, denn Ildemaro ist Christ, während sie mit Gatten Acmet moslemischen Glaubens ist.
Die beiden ersten Akte waren von der Komposition her identisch mit der Musik “Lucrezia Borgia”, höchstens anders zusammengestellt oder mit anderem Text versehen.
Den dritten Akt komponierte Donizetti hingegen weitgehend neu, dazu kam ein tragischer Frauenchor, der auch bei Donizetti nicht fehlen darf.
Das Cover-Foto der bei dem Label Oehm herausgebrachte Aufnahme als Welt-Première und Ur-Aufführung mit Chor und Orchester der Berliner Operngruppe unter Felix Krieger beinhaltet neben einem sehr ansprechenden Foto, den Namen der Protagonistin und Titel-Heldin in lateinischer und arabischer Sprache.
Dies liegt daran, dass Dalinda erst eine Papsttochter ist, aus der die persiche Fürstin wurde.
Das Foto zeigt die verschleierte andächtig fast schon betende Dalinda mit faszinierendem Blick vor sich hinschauend.
Halbszenische Aufführung des Orchesters der Berliner Operngruppe
Live-Aufnahme aus dem Jahre 2023
Resümee
Als Belcanto-Komponist wird Donizetti oftmal verkannt und unterschätzt, da er im Schatten Verdis, Rossini und Bellinis steht.
Er ist einer der vielfältigsten italienischen Komponisten, er komponierte in damaliger Zeit sehr erfolgreiche Werke fast in jedem Genre mit viel Fantasie und überzeugender und einfallsreicher Gestaltung.
Er wirkte sogar teilweise an den Libretti seiner Werke als Co-Autor mit, was also über den Rahmen einer reinen Vertonung eines vorgegebenen Textes etc. hinausging.
Die Anzahl der von Donizetti geschriebenen Opern werden bei verschiedenen Biografen in unterschiedlicher Anzahl angegeben.
65–71 Werke, wenn man nicht vollendete oder (teilweise) verloren gegangene hinzuzählt, kann diese Zahl sogar noch steigen.
Die Oper “Lucrezia Borgia” wurde mehrfach abgeändert, um es durch die Zensur zu bringen, was immer wieder scheiterte – also allein von diesem Werk existieren mindestens drei bis vier weitere mit eigenen Namen versehene Opern, wovon eine das besprochene Werk “Dalinda” ist.
Wenn man die Synopsis liest, erscheint einem das Werk schon etwas kompliziert und unübersichtlich, was einen aber nicht davon abbringen sollte, sich dem Werk anzunehmen.
Es handelt sich um eine Vorlage Victor Hugos Tragödie “Lucrèce Borgia” von 1833, wovon Felice Romani das Libretto geschrieben hatte.
Die Aufnahme der Berliner Operngruppe als Welt-Uraufführung stellt schon eine Bereicherung nicht nur für Donizetti-Verehrer dar ; auch ohne das Ausgangswerk zu kennen wird dem normalen Hörer hier ein neues Werk dargelegt mit Themen, die schon immer viele fasziniert haben – Glaubensgegensätze, Liebe, Hass, Geheimnisse, Schauermärchen und die orientalische Welt, die für Komponisten schon immer einen Reiz hatte.
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