“Eine Reise in das Land der Mafia”
Angelo wollte mich Sonntag Vormittag in der Frühe am Hotel abholen.
Mein Hotel lag nahe dem Quattro Canti im Herzen der 3.000jährigen Altstadt Palermos.
Es glich eher einem Palast und keinem normalen Hotel, aber ich brauchte es ja nicht zu bezahlen.
Einmal einen Blick in die sizilianische Mafia zu werfen, das war schon immer ein Wunsch von mir gewesen.
Einem guten Bekannten hatte ich dieses immer wieder mit Begeisterung erzählt.
Er hatte Beziehungen zum Innenministerium und so war die Sache eingestiehlt.
Gut, wenn man doch die richtigen Leute zum richtigen Zeitpunkt hat, um so ein Erlebnis zu haben und dann noch ohne Hotelkosten.
Ein bisschen Mut braucht man dazu auch, und den hatte ich ja zu dem Zeitpunkt noch.
Dieses dachte ich auch, als ich am verabredeten Sonntag vor der Tür meines Luxus-Appartments im noch nicht aufgewachten Palermo bei lauen Temperaturen stand.
Die Straßen waren noch vollkommen leer und somit sah ich Angelos grünen Omega schon von Weitem herannahen.
Ich kannte ihn nur vom Telefon.
Er hielt mir die Tür des Wagens auf und ich begrüßte ihn erst einmal.
Er machte eher einen schüchternen zurückhaltenden Eindruck auf mich.
Wir müßte vorsichtig sein, sagte er, seit einiger Zeit wird diese Gegend immer mehr von der Polizei überwacht, wir könnten kein Risiko eingehen.
…wir fuhren die Hauptstraße nach Agrigent
Wir fuhren die Hauptstraße nach Agrigent bis zu dem Abzweig Mezzojuso. Nach Westen erstreckte sich das hügelige Naturschutzgebiet Castagneto Mezzojuso.
Rechter Hand sah man einen leerstehenden Bauernhof und Angelo stellte den Wagen auf dem Innenhof ab, wo noch zwei weitere Personen warteten.
Wir stiegen um und fuhren zu viert weiter.
Kurz hinter Mezzojuso gab es eine scharfe Kurve und der Fahrer fuhr in einen unbefestigten Feldweg – ich hatte schon von weitem ein wiederum leerstehendes Bauernhaus gesehen, zu dem unser Fahrer steuerte.
Vor der Tür hielten auch schon einige andere Autos.
Man hatte von hier einen traumhaften Blick über die ganze Gegend, sodass man herannahende Autos schon frühzeitig erkennen konnte.
Vor der Tür stand ein Schäfer, der so eine Art Wache darstellte und das weite Land von seinem Platz aus überblicken konnte.
Wie Angelo mir gesagt hatte, stellen die Schäfer schon so eine Art “Privat-Armee” für die Cosa Nostra dar, denn sie wurden immer stark unterstützt und schworen auf Ihre Wohltäter.
Sehr schweigsam gingen wir zum Eingang des Hauses.
Es wirkte alles vollkommen heruntergekommen, keine Scheiben mehr in den Fenstern, aus den Angeln gehobene Türen, überall Abfall und Schrott und alles roch vermodert.
…fast wie ein Gottesdienst
In der Küche stand ein langer Tisch, an dem schon mehrere Personen Platz genommen hatten und wir setzten uns ruhig hinzu, fast schon wie in einem Gottesdienst.
Auf dem Tisch standen ein paar Kerzen …
…wie in einem Krimi ging langsam eine Tür auf und eine Person setzte sich direkt vor eine brennende Kerze an den Kopf des Tisches … es war Provenzano.
Alles schwieg einen kurzen Moment lang.
Ich war doch überrascht, denn er sah sehr mitgenommen aus, graue Haare, unrasiert, ziemlich gammelige Kleidung – es gab ja kein Foto von ihm nach 1959 und das sollte auch dabei bleiben.
Fotografieren war streng verboten, Provenzano wollte nicht, dass sein Gesicht in der Öffentlichkeit bekannt wurde.
Vor sich auf dem Tisch hatte er eine Bibel und eine Kette mit drei Kreuzen, eine Art Glücksbringer.
In Gottes Namen
Ich war doch ein bisschen unruhig dem obersten Boss der Casa Nostra, dem mächtigsten Mann der Organisation, so nahe zu sein, bzw. fast neben ihm zu sitzen.
Wie es hieß, gehörte er noch zur alten Schule und erledigte seine Korrespondenz durch die kleinen zusammengefallteten Zettel, auf die er die Botschaften verschlüsselt mit der Schreibmaschine schrieb und die von einem zum anderen weitergereicht werden, der Empfänger hat die Verpflichtung nach dem Lesen diese Botschaft sofort zu vernichten.
Der Mann ohne Gesicht
Provenzano war in Italien ein Begriff, man jagte ihn schon lange Jahre.
Er war quasi wie ein Phantom, das immer wieder schnell verschwand.
Man nannte ihn den Mann ohne Gesicht, da es kein Fahndungsfoto gab und überall nur ein am Bildschirm erstelltes Phantombild aushing.
Provenzano eröffnete mit ein paar kurzen Worten die Versammlung.
Er hatte seit er die absolute Macht besaß, die rauschhaften Bälle aus Sicherheitsgründen abgeschafft und hielt dafür die Treffen im kleinen Rahmen an einem verborgenen Ort wie diesen für sinnvoller.
Es hieß wiederum, dass er so oder so vieles verändern wolle, vor allem die Mafia aus den Schlagzeilen der Presse holen und alles verdeckter spielen zu lassen.
Er war ein geschickter Stratege mit taktischen Geschick, von dem manche große Firma lernen könnte, aber die Cosa Nostra ist als solches ja auch eine große Firma, ein Millionen-Unternehmen und das braucht einen guten Lenker.
Karte der Aktivitäten der sizilianischen Mafia um 1900
Nach einer mehrstündigen Diskussionen ging Provenzano noch mit jedem der Anwesenden in ein Nebenzimmer für ein Gespräch unter vier Augen, um mit ihm über seine neue Strategie des “pax mafioso” für die Organisation zu reden.
Er wollte unbedingt einen Krieg innerhalb der einzelnen Clans vermeiden, die Sitation erfordert gemeinsame Stabilität und nicht gegenseitige Zerstörung.
Währenddessen wurde von den Schäfern aufgetischt und es gab Lammkoteletts, Gemüse und Schafskäse, dazu tranken wir Rotwein – Provenzano wie gehabt nur frisches Quellwasser.
Das Gipfeltreffen
Das “Gipfeltreffen” wurde vom Boss der Bosse am Spätnachmittag mit einigen Abschlussworten beendet.
Er zitierte noch ein paar Zeilen des Lukas-Evangelium aus dem neuen Testament und schloss damit die Runde.
Wir verließen alle schweigend die ehemalige Küche, nur Provenzano blieb zurück.
Es war wie der Gang aus der Kirche am Ende einer Messe.
Als wir wieder draußen waren, fragte ich Angelo, wo der Oberboss denn bleiben würde und Angelo meinte, dass er immer unerkannt jedes Treffen verlassen würde, denn keiner sollte ja erfahren, wohin er als nächstes fuhr.
Draußen hatte es schon gedämmert, aber es wehte noch ein laues Lüftchen.
Ich war immer noch leicht ergriffen und gerührt.
Nachdem wir uns noch ein bisschen unterhalten hatten, stiegen wir wieder in unser Auto und fuhren Richtung Bauernhof, wo unser Omega stand.
Ich kam mir vor wie ein Staatsoberhaupt, das nach einem Gipfeltreffen in seiner Karosse zum Hotel gebracht wird, was ja dann auch der Fall war.
Angelo fuhr wieder die Hauptstraße von Agrigent Richtung Palermo und brachte mich zum Quattro Canti in mein Hotel.
Er fragte noch, ob es aufschlussreich für mich gewesen war, was ich bejahte und mich von ihm verabschiedete.
Noch nachts im Hotelbett war mir ein bisschen unwohl an einer Hauptsitzung der Mafiabosse unter dem Haupt-Paten gesessen zu haben, wo eventuell schwerwiegende Entscheidungen gefällt worden sind.
Als ich daheim in Deutschland meine Eindrücke in einem Beitrag festhielt, dachte ich noch, wie lange Provenzano den Stress noch durchhalten würde, denn er sah schon ganz schön mitgenommen aus.
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Nach ca. einem halben Jahr las ich die Schlagzeile einer großen deutschen Zeitung über die Festnahme Provenzano in einem Schafsstall in der Nähe seines Heimatsortes Corleone, ich musste doch schlucken, ich habe diesem mächtigen Mann noch vor kurzem Seite an Seite gesessen und jetzt hat ihn die Polizei nach über 40jähriger Flucht erwischt.
Ihn hatte seine Unterwäsche verraten, die ihm immer vor die verschlossene Tür gelegt worden ist, frisch von seiner Frau gewaschen und gebügelt.
Dieses fiel den Ermittlern auf, vor allem, dass sie nach kurzer Zeit vor der Tür verschwunden war.
Er soll seine Geschäfte in völlig spartanischen Verhältnissen von dem Schafsstall aus im Bademantel mit Schreibmaschine getätigt haben und sich von Ziegenkäse, Brot und reinem Brunnenwasser ernährt haben.
Auf den Fotos in der Zeitung sah er ganz harmlos aus, jetzt hat er wieder ein Gesicht, denn es sind die ersten Fotos nach über 40 Jahren, die veröffentlicht worden sind.
Man brachte ihn nach seiner Verhaftung am 11. April des Jahres 2006 mit einer Polizei-Eskorte zum Justizpalast nach Palermo, wo ihn hunderte von Menschen sehen wollten, denn er war ja lange Jahrzehnte nur nach Phantombild gejagt und keiner kannte bis zu dem Zeitpunkt sein wirkliches Aussehen.
Es waren alle Fernsehsendungen unterbrochen worden für die ungeheure Sensation, dass der meistgesuchteste Schwerverbrecher in der Nähe seines Heimatortes in einem Ziegenstall gefasst worden war.
Somit wird seine Laufbahn als Boss der Bosse, der alleinig über 20 Jahre die Cosa Nostra leitete, zuende sein – mal sehen, wer sein Nachfolger wird.
11. April 2006
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“Provenzano-Bibel“
Bei der Verhaftung Provenzanos am 11.04.2006 wurde von den Ermittlern nicht nur eine größere Anzahl Pizzinis beschlagnahmt, sondern auch eine Bibel aus dem Jahre 1968.
Dieses war das einzige Buch, was man bei ihm fand, nach dem er in Haft auch immer wieder fragte.
Diese Bibel war mit umfangreichen Randbemerkungen, Unterstreichungen, Zitaten, Numerierungen, Verbindungslinien etc. versehen und man fragt sich auf der Suche nach einem “Schlüssel” der zu codierten Geheimschrift Provenzanos in den Pizzinis, inwieweit in der Bibel Codierungen bzw. Entschlüsselungen zu finden sind.
Nach Heranziehung von italienischen Kriminalpsychologen, dem amerikanischen FBI und fachwissenden Theologen, bleibt es auch heute noch ein Rätselraten, ob diese Bibel über den Rahmen einer private Lektüre hinaus, noch eine andere Funktion hatte.
Eine logische Erklärung könnte sein, dass Provenzano seinen Anweisungen und Befehlen einen religiös-mythologisch anmutenden Charakter verleihen wollte oder eine biblisch-religiöse Symbolsprache benutzen wollte…was auch immer, eine normale Lektüre aus religiösen Gründen kann man wohl ausschließen.
Es wird wie vieles ein ewiges Rätsel bleiben, was der Boss der Bosse mit ins Grab genommen hat.
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Buch-Tipps
*Clare Longrigg (“Der Pate der Paten”, Herbig-Verlag München 2009, 380 Seiten)
*Henning Klüver (“Der Pate – letzter Akt”, Bertelsmann Verlag München 2007, 288 S.)
“Bernardo Provenzano, il Fantasma di Corleone”
(https://www.youtube.com/watch?v=UJ56OzCWHXE)
Beeindruckende Reportage über die Verhaftung Provenzanos (YouTube)
*Deckblatt : Stadtplan Altstadt Palermo mit Markierung Quattro Canti