Die Faszination der Neunten

Verborgen bleibt das Absolute”

ANTON BRUCKNER (1824–96) war als solches durch seine streng reli­giöse Erziehung ein Schöpfer von christ­li­chen Werken, vor allem war er ein begabter Orgel-​Virtuose.
Was aller­dings nicht alle wissen, ist die Tatsache, dass Bruckner neun bombas­ti­sche Symphonien kompo­niert hat, soge­nannte “Monumentalsymphonien”, die in die Musikgeschichte einge­gangen sind.

Hier eine Analyse von Bruckners Kompositionsstil zu bieten, würde den Rahmen sprengen, aller­dings kann man natür­lich immer einen heran­ziehen als Vergleich, und dies ist BEETHOVEN.
Allerdings sind die Beethoven-Symphonien als einzel­ste­hend anzu­sehen, während Bruckners Symphonien einen gewissen inneren Zusammen-
halt haben.


Etwas zynisch könnte man sagen, dass er nur eine Symphonie kompo­niert hat und diese neunmal, was aller­dings an der Realität der Bedeutung dieser Werke vorbei gehen würde.
Man kann es bild­haft so ausdrü­cken, dass seine Symphonien eine
Familienähnlichkeit aufweisen, aber bei genauerem Hinhören, zeigt sich eine ausge­prägte Individualität eines jeden Familienmitgliedes (jede steht extra, aber alle hängen zusammen).
Um doch kurz die Strukturen anzu­reißen, kann man sagen, dass
diese Werke bis zu 80 Minuten (!) dauernd können, reine Viersätzer sind und einen klaren konstruk­ti­vis­ti­schen Kompositionsbau haben.

…Absolute Musik”

Symphonien sind ja Absolute Musik, keine Programm-​Musik, hier muss alles die Musik sagen, denn letzt­end­lich sagt alles die Musik (Wagner). Einen gewissen Handlungsablauf, der von der Musik illus­triert wird, gibt es nicht.

Durch eine gewisse Terrassen-​Dynamik und sich stei­gernde Bombastizität eignen sich diese immensen Werke oftmals gut für Rauschzustände und helden­haftem Handeln (Propaganda).

Wenn man bedenkt, dass Bruckner wie ein kleiner “Tölpel” mit
Hakennase und viel zu großer Kleidung wirkte, der an ziem­li­chen Minderwertigkeitskomplexen litt, zeigt dies, dass innere Gefühle schnell ins Gegenteil umschlagen können, denn man denkt, wenn man diese Symphonien hört, bestimmt nicht an so einen kleinen tief­re­li­giösen Menschen und wenn man dann ein Foto von ihm sieht, dann denkt man “…was, der hat diese Werke geschrieben ? Das gibt es doch nicht…”


Sein Sarkophag steht heute unter der Orgel im Stift St. Florian bei Linz in Ober-​Österreich, wo er einst die Orgel gekonnt spielte.

Kein Glück bei Frauen hatte er auch nicht, das hatte Nietzsche und Schopenhauer auch nicht (und ich auch nicht).
Bruckner hat wie manch andere einen Fehler gemacht, er war ziem­lich schreib­faul und wort­karg (even­tuell auch von der Veranlagung her).
Solche Schöpfer, vor allem Komponisten, sollten zu ihren Werken etwas schreiben – also Briefe, Tagebücher, erläu­ternde Texte etc. und dies fällt bei Bruckner eher mager aus (oder nur im kleinen Rahmen).
Auch die Bezeichnungen oder Untertitel der Symphonien sind eher rar.

Die IV. Symphonie hat die Bezeichnung die “Romantische”, was man quasi als kurzen Bedeutungshinweis ansehen kann, nicht als analy­ti­schen Ansatz.
Bei dem Begriff “Die Romantische” lehnt er sich an den abgöt­ti­sche verehrten Meister Richard Wagner an – dessen “Lohengrin” von der Musik her religiös-​mysteriös und frei von Unreinem gilt, bei Wagners Werken inter­es­sierte Bruckner eher die Komposition und weniger die Handlung und die Dichtung, er war ja schließ­lich Symphoniker (Bruckner).

“Dank schön, werther Meister..”

Man kann natür­lich alles hinein­in­ter­pre­tieren, wenn man aller­dings die wagner­schen Kompositionsstrukturen kennt und die Kongruenz mit dem Handelnden, sieht und hört man als geübter Hörer, wo Bruckner sich ange­lehnt hat.

Um am Beispiel der Vierten Symphonie zu bleiben, kann man Wald- und Naturerlebnisse in das Hörerlebnis sugge­rieren, das “Jagd-​Scherzo” scheint einer Scene aus Wagners “Tannhäuser” entnommen zu sein.

Von einzelnen Symphonien (No. 1 – 5, No. 8) gibt es mehrere
Fassungen, es gibt also nur wenige (No. 6 und No. 7), die in nur einer
Version exis­tieren.
Diese Umarbeitungen hatten meis­tens Gründe von außen, Bruckner war naiv und leicht beein­flussbar.
Wenn Kritik kam, zwei­felte er an sich selbst und seinem Werk, und wenn der Erfolg auf der Konzertbühne ausbliebt, änderte er das jewei­lige Werk bis zu dreimal um.

Wenn man jetzt in eine Analyse aller neun Symphonien gehen würde, die fast 10 Stunden (!) dauern, käme man vom eigent­li­chen Thema dieses Beitrages ab.
Und dieses eigent­liche Thema betrifft Bruckners 9. Symphonie in
D minor (d‑moll).
Denn diese Neunte ist nicht als eine Symphonie aus der Familienzugehörigkeit der Brucknerschen Gesamt-​Symphonien zu sehen, eigent­lich schon, aber …

…. es ist die Unvollendete”

Sie ist also nicht nur der Abschied vom Leben (ähnlich Wagners Parsifal”), sondern, was noch viel wich­tiger ist, sie ist nicht voll­endet (!)

Verborgen bleibt das Absolute”, dies bedeutet, dass etwas nicht Vollendetes wesent­lich mehr Reiz auch zum Weiterdenken und Fantasieanregen hat, als etwas komplett Vollendetes.
Denn durch das Unvollendete macht sich jeder Rezipient Gedanken, wie der fehlende vierte Satz wohl ausge­sehen hätte, wenn er vom Schöpfer voll­endet worden wäre (?)

Seit Bruckner Tod am 11. Oktober 1896 versu­chen unzäh­lige Dirigenten, Komponisten, Fachleute, Musikwissenschaftler und Verehrer das Werk zu “voll­enden”.
Auch wenn es eine große Anzahl von Manuskripten, Skizzen und Aufzeichnungen Bruckners aus verschie­denen Arbeitsphasen zum 4. Satz gibt, schei­tert es natür­lich daran, dass eine komplette Realisierung nicht ganz aus der Feder Bruckners stammen würde, sondern von jemand anderem ergänzt oder teiler­gänzt wäre.

Die Schöpfungs-​Symphonie

Man hat das Werk oft als Schöpfungs-​Symphonie ähnlich Joseph Haydns “Die Schöpfung” inter­pre­tiert oder damit vergli­chen, da aber Bruckner sich, wie erwähnt, nicht viel über seine Werke schrift­lich geäu­ßert hat, bleibt im Grunde vieles Spekulation.
Dieses 3sätzige Werk, wie es heute gespielt wird, hat schon ohne einen 4. Satz eine immense Länge von über einer Stunde.

Bruckner arbei­tete laut Literatur trotz Alters und schwerer Krankheit uner­müd­lich am Finale, was schon zeigt, dass ihm an der Vollendung sehr gelegen war.
Da Bruckner die Wort-​Sprache immer schwer fiel, griff er natür­lich zur Universalsprache Musik mit fester Verankerung in seinem tiefen Glauben an Gott als Bilanz seines Lebens. 

Bruckner zu herbst­li­chen Stunden

Dieser mysti­sche Klangraum hat schon viele Rezipienten mit seiner atem­be­rau­benden Steigerungsdramaturgie zu Visualisierungsversuchen hinge­rissen.
Groß ange­legt versuchte man dieses Werk nicht nur akus­tisch, sondern auch optisch dem Zuhörer sichtbar zu machen, was aber (meines Wissens) fast immer entweder geschei­tert ist oder im Sande verlief.
Es ist natür­lich nicht einfach, oder so nicht möglich, die abso­lute Musik außer­halb der Sinne des Rezipienten sichtbar zu machen, denn jeder Mensch empfindet das ja anders, es ist ein Interpretieren desje­nigen, der so eine Visualisierung versucht.

Außerdem sind die Werke von Bruckner ja für Konzertbühnen geschaffen und nicht für die Filmwirtschaft, die es ja zu Lebzeit Bruckners und Wagners noch gar nicht gab.

Wenn man Bruckners 9. Symphonie konzen­triert hört, stellt sie von der Bombastizität, Klangfarbe (wie ein mysti­scher Klangraum) manche Wagner-Ergüsse fast als harmlos dar, was eigent­lich schwer zu sagen ist, weil es bei Wagner ja um eine Kongruenz alle Kunstformen geht, bei Bruckner aber eben um die abso­lute Musik. 

Wie bereits erwähnt, ist es bekannt, dass Bruckner, der bis zum Schluß an dem Werk arbei­tete, eine große Anzahl von Partiturbögen und Skizzen hinter­lassen hat.
Er ging also trotz des bewußten Lebensendes nicht von der Idee ab, das Werk 4sätzig zu voll­enden und es nicht bei 3 Sätzen zu belassen.
Befürworter einer Vollendung des 4. Satzes argu­men­tieren dahin, dass Rekonstruktionsversuche (Komplettierungsversuche) nicht ganz sinnlos wären, dass der Nachlass aus Bruckners Hand nach deren Meinung ein kompo­si­to­ri­sches Gebilde ergebe und weitaus mehr darstelle, als was es auf den ersten Blick erscheint, auch wenn Gegner eher von einem Bastlerereignis und einem Hinzudichten sprechen.

Es kommt halt auf den Grad des Eigenanteils an und was man mit einer kompletten Realisierung des 4. Satzes errei­chen will.
Die Gegner einer “Rekonstruktion” argu­men­tieren auch dahin­ge­hend, dass die musi­ka­li­sche Idee im Kopfe Bruckners statt­fand und dieses bildet eine unüber­wind­bare Kluft zwischen Schöpferidee und dem Hinzuinterpretieren.
Bruckners Werke haben genau wie Wagners einen gewissen Nimbus und dazu gehört das Rätselhafte, das sie umgibt, vor allem in der 9. Symphonie von Bruckner.


Einen meiner Meinung nach sehr gewagten Versuch einer Visualisierung versuchte ein gewisser Walter‑W. Legenstein, der das ganze Werk (No.9) durch moderne Technologien visua­li­sieren wollte, womit er auch schon mit Karajan kurz vor dessen Tod (angeb­lich) gespro­chen hatte.
Auf seiner (nicht unin­ter­es­santen Seite) hört aller­dings die Abfolge seiner Bemühungen 1985 begin­nend im Jahre 2010 auf, was einem natür­lich die Frage stellt, ob die Idee dieser völlig neuen Form der Darstellung klas­si­scher Musik und Bruckners Neunten im Sande verlaufen ist und von ihm aufge­geben wurde, oder nur ruht (?).

Eine komplett andere Idee ist, was ja auch schon oft vorge­kommen ist, dass der Schöpfer das Ende extra offen gelassen hat, damit die Nachwelt sich die Köpfe zerbre­chen sollte, wie es eigent­lich sein sollte, also eine offene Frage … und eine offen geblie­bene Frage regt immer die Fantasie der Rezipienten an und macht so das Werk unsterblich.

Bruckner forever

Im Falle von Bruckners Neunten ist dieses eher auszu­schließen, weil er ja bis zum Schluss an dem Werk gear­beitet hat.

Auf der Seite des Herrn Walter‑W. Legenstein (die ich mit Interesse gelesen habe) bringt der Autor einen Spruch bzw. eine These, die mich begeis­tert hat :

“Die großen Ideen der Menschheit sind da, aber es gibt nur wenige
große Geister, die in der Lage sind, diese ans Tageslicht zu bringen”.

…und einer dieser wenigen war und ist ANTON BRUCKNER.


Faszinierend ist nur das Unergründliche

Max Auer, “Sein Leben und Werk“
Amalthea-​Verlag Wien, 1932
(lesens­werte und umfang­reiche Biographie)


CD-​Tipp :
Sämtliche Symphonien No.1–9
Valery Gergiev – Münchner Philharmoniker
Label : MPhil DDD, 2017–2019
Erscheinungstermin : 20.11.2020

Aufnahme aus der Stiftsbasilika St. Florian /​ Linz
9 CD-​Box mit hoch­wer­tigem Booklet


*Weitere Beiträge in meiner Bruckner-​Reihe :