“Der Gekreuzigte”
Als die Sommermonate in diesem Jahr nahten, machte ich mich auf den Weg zum Musensitz Weimar, die Stadt mit der langen Tradition, die die Kultur unzähliger Jahre geprägt hat.
Doch es gab auch etwas eher Trauriges hier in Weimar.
Leicht oberhalb des Alten Friedhofes stellte ich den Wagen am Anfang der Humboldt-Straße ab – denn zu bedeutenden Orten hinaufzugehen ist immer besser, als hinaufzufahren.

Die Temperaturen konnte man schon als leichte Hitze bezeichnen und nach einer Viertelstunde zeigte sich von der Straße her auf der rechten Seite ein Zaun.
Wenn man näher herankommt, kann man vorher schon erahnen, dass hier etwas Überraschendes kommen wird.
Ich hatte im Vorfeld gelesen, dass dieses Villa “Villa Silberblick” genannt wird. Man kann also vermuten oder erahnen, dass hier ein guter Blick über Weimar zu genießen ist.
Und den wollte ich erst einmal erblicken.
…die Villa ist herrschaftlich und archaisch
Die Villa ist herrschaftlich und archaisch, ganz im Stil einer Künstlervilla, die man oft bei bedeutenden Personen aus der Kultur und bei Schöpfern anfindet.

Somit ging ich über den mit Kieselsteinen belegten Vorhof herein und umrundete seitlich die Villa und kam in eine leicht am Hang liegende Gartenanlage.
Ein Gärtner war bei der Arbeit und mähte den Rasen.
Ich sagte zu ihm, dass schon das Umfeld zu der Villa wirklich sehenswert sei, aber er reagierte nicht.

Einen Sinn für Natur musste die Herrin des Hauses schon haben.
Ich wusste, dass der Philosoph nach seinem geistigen Zusammenbruch durch seine Schwester gepflegt wurde, mehr nicht.
…ich hatte alles von Nietzsche gelesen
Ich hatte alles von Nietzsche gelesen, manches bis zu viermal.
Meine einstige Begeisterung hatte allerdings nachgelassen, das Radikale und sich selbst Widersprechende nimmt zu schnell die Überhand und es gibt eine Grundregel : um so mehr Schopenhauer, um so weniger Nietzsche.
Ich winkte dem Gärtner noch einmal kurz zu und kam wieder zu dem kieselbedeckten Vorhof.
Die hölzerne mächtige Eingangstür löste bei mir Erinnerungen an Jugendstil-Architektur aus.

Ein Pfleger kam mir entgegen und ich fragte nach der Herrin des Hauses, doch da stand sie mir schon im Innenbereich gegenüber und ich grüßte mit etwas Verlegenheit.
“Frau Förster-Nietzsche”, sagte ich, “…meine Hochachtung Sie hier anzutreffen.”
…sie war klein von Statur
Sie war klein von Statur und ich hatte nachgelesen, dass sie schon einiges erlebt hatte und sehr aktiv in der Vergangenheit war.
“Kommen Sie doch herein…”, erwiderte sie.
Ich stellte mich kurz und anständig vor und sagte ihr, dass ich sehr viel von ihrem Bruder gelesen habe, meine kritischen Anmerkungen ließ ich allerdings zur Seite.
Dafür, dass sich ihr Mann in einer Siedlungskolonie in Paraguay das Leben genommen hatte und sie hier die Arbeit mit dem hilfsbedürftigen Bruder erledigen musste, machte sie einen durchaus stabilen und resoluten Eindruck.
Ich musste zurückdenken, einige sehr resolute Frauen haben schon viel bewegen können, und da gehört Frau Förster-Nietzsche dazu.
…ich wollte nicht in Komplimente ausufern
Ich wollte nicht in Komplimente ausufern, sprach ihr aber meine Hochachtung für ihre Mühen bei der Vollzeit-Pflege an ihrem Bruder aus – Ehre wem Ehre gebührt.

Nun kam ich zum eigentlichen Grund meines Besuches…
…kann ich ihn sehen ?
“… kann ich ihn sehen?”
Sie sagte, dass er die ganze Nacht nicht geschlafen hätte, was öfter vorkommen würde und sie habe mit dem Blick zum Garten eine Art Wintergarten einrichten lassen, wo er sich nachmittags befinden würde.
Nun kam mir ins Gedächtnis, dass dieses herrschaftliche Gebäude eigentlich gar keine Künstlervilla im herkömmlichen Sinne ist, wo ein Künstler seiner Tätigkeit nachgeht, sondern eher die “Pflegestation” eines Krankenhauses.
So wie ich wusste, hatte man Nietzsche nach einer Anzahl von wirren Briefen und nach einem Zusammenbruch in Turin in eine Irrenanstalt nach Basel verwiesen.
Sämtliche Heilungsversuche scheiterten, sodass man ihn erst zu seiner Mutter nach Naumburg brachte.
Da müssen, wie schon oft, die Mütter wieder einspringen.
Die Schwester machte sich damals auf den Weg nach Deutschland und nahm der bereits betagten Mutter die Arbeit ab … lobenswert.
Allerdings wusste ich auch, dass sie die Kontrolle seiner Werke in Form einer Gesamt-Ausgabe hatte, bzw. immer mehr in ihrer Hand vereinte.
Dieses ließ ich aber bei der Fortführung der Unterhaltung weg.
…sie führte mich durch wahrlich stilvoll eingerichtete Zimmer
Sie führte mich durch wahrlich stilvoll eingerichtete Zimmer und sagte mir sehr offen, dass sie vor habe, hier eine Art Archiv der Werke ihres Bruders einzurichten, sie wollte es “Nietzsche-Archiv” nennen und es solle das Werk der Nachwelt erhalten.
Ich wurde schon leicht stumm und war begeistert von der Idee.
In einer Ecke stand eine große, bestimmt fast 1,50 Meter hohe Büste aus einem Block weißem Marmor angefertigt, die am oberen Ende das Haupt Nietzsches zeigte.

Noch mit einiger Ehrfurcht blieb ich davor stehen, sehr beeindruckt, egal wie man dem Werk gegenüberstehen mag.
“Nur wer gegen den Strom schwimmt, kommt an die Quelle”, zitierte ich mich mal wieder selbst.
Sie lachte und sagte, dass ein guter Freund es sich nicht hätte nehmen lassen, schon vor dem Tod ihres Bruders ihn in Marmor zu verewigen.
“Passt aber sehr gut zum Ambiente…”, erwiderte ich.
…es waren teilweise schon einige Schaukästen erstellt
Es waren teilweise schon einige Schaukästen erstellt, in denen man Dokumente aus dem Leben ihres Bruders sehen konnte – ich hatte das Gefühl, dass er schon lange tot sei.
Da dieses ja nicht der Fall war, drängte ich leicht auf einen persönlichen Anblick Nietzsches.

Der Wintergarten mit dem Blick in den traumhaft schönen Garten, war fast leer.
…in einem Lehnstuhl saß Nietzsche
In einen Lehnstuhl saß Nietzsche mit einer Wolldecke umwickelt.
Er zeigte keinerlei Regung, als ob er unser Hereinkommen gar nicht gemerkt hätte.
“Schau mal Fritzchen, du hast wieder Besuch…!”, sagte die Herrin.
Ich neigte mich leicht herunter, um Nietzsche ins Gesicht sehen zu können. Er reagierte überhaupt nicht und ich hatte das Gefühl, dass ihm auch gewisse Lähmungen zu schaffen machten.
In dem Moment dachte ich, was aus so einem großen Geist doch werden kann und dass der Geist und der Körper doch zwei vollkommen unterschiedliche Dinge sind.
…Nietzsche versuchte seine Hand zu heben
Nietzsche versuchte seine Hand zu heben, ich gab ihm kurz die Hand, seine schien gar keine Kraft mehr zu haben.
“Er ist ziemlich geschwächt…”, sagte die Schwester.
“Es ist immer eine ziemliche Tortur, bis wir ihn aus dem Schlafzimmer im ersten Stock hier herunter geschafft haben…”
“Ja, das glaube ich…”, sagte ich zustimmend.
“Es ist ja schon einmal gut, dass sie gewisse Helfer und Unterstützer haben…”
…ich hatte mich leicht von Nietzsche abgewandt
Ich hatte mich leicht von Nietzsche abgewandt und schaute durch die Fenster in den Garten.
Tja…”, dachte ich, “…Leben ist Leiden – nur die einen trifft es mehr, die anderen weniger.”
Frau Förster-Nietzsche meinte, dass es besser wäre, wenn wir ihn nicht weiter anstrengen sollten, da Gesprächsversuche immer für ihn sehr kräfteraubend seien.
Man kam einfach nicht herum bei der Einrichtung der Räume und den Utensilien, die Nietzsches Lebensweg symbolisierten, zu erahnen, dass hier einmal eine richtige Begegnungsstätte und ein zentrales Archiv aller Nietzsche-Verehrer entstehen sollte.
Aber noch lebte er ja.
Als wir uns wieder in den Ess-Saal begeben hatten, brannte mir eine Frage auf der Zunge, die ich der resoluten Dame noch stellen wollte.
“Ihr Bruder ist ja in seinen Werken gegen manches ganz schön angegangen, man denke da nur an seine Haltung zur Kirche”, sagte ich und zeigte gewisse Fachkenntnisse.
“Aber, was wird denn nun aus dem umfangreichen Nachlass und allgemein aus seinen Schriften, wie wollen Sie das ganze archivieren und publizieren?”
“Wir haben uns bereits zusammengesetzt”, sagte sie konternd, “und wollen nach Fritzchens Tod eine allgemeingültige Gesamtausgabe herausbringen, ich habe schon andere Versuche des Publikmachens unterbunden.”
“Es soll alles von hier ausgehen, auch der Nachlass, er soll nicht unter den Tisch fallen, wir wollen ihn in einer größeren Anzahl von Büchern auch zugänglich machen.”
…ich habe alle Hauptwerke bis zu viermal gelesen
“Ich habe alle Hauptwerke bis zu viermal gelesen, vor allem das Tragödienbuch und den Zarathustra”, erwiderte ich schon ein bisschen mit Stolz.
“Ihr Bruder hat ein breites Spektrum, vor allem für die Jugend geeignet, wenn man noch auf der Suche ist !”, sagte ich mit einem Lächeln.
“Wir planen hier ein Zentrum für alt und jung”, meinte sie, “alle sollen hier Zugang zum Werk haben und Erfahrungen austauschen können, es haben sich schon einige bekannte Freunde und Förderer gefunden…”
Es war bereits Spätnachmittag und sie führte mich gemächlich zurück in den Eingangsbereich.
“Meine Verehrung und Hochachtung vor Ihrer Arbeit…”, sagte ich schon ein bisschen unterwürfig.
“Ich werde die Werke Ihres Bruders immer in meinem Regal, bzw. in meinem Kopf haben.”
“Seien Sie gespannt auf die neue Gesamt-Ausgabe, die wir demnächst planen auf den Markt zu bringen”, sagte sie im Abschied begriffen.

Als ich die Humboldtstraße wieder am lauen Abend herunter Richtung Auto ging, dachte ich, ob so eine Gesamt-Ausgabe wirklich dem entspricht, was Nietzsche geschrieben und gemeint hat (?), aber da sind ja bis heute die Geister geschieden.
“Der Mensch ist etwas, was überwunden werden muss”
(Nietzsche)

*sh. auch die Beiträge
“Wagner in Verona” / “Schopenhauer in Frankfurt”
“Goethe in Weimar” / “Ein Besuch bei Abbé Liszt”
*****************
*sh. auch meinen Beitrag :
*Fotos-Galerie Weimar
* Weimarer Klassik (Nietzsche-Archiv)