“…plötzlich steht Wagner vor mir”
Die Prunkmeile Veronas, die Via Mazzini ist immer gut für illustre
Begegnungen.
Sie ist mit weißem und rosafarbenem Marmor gefliest – ich hatte vorher noch keine Gasse in einer italienischen Stadt gesehen, die mit Marmor belegt ist.
An diesem Oktobertag strömten wie immer die Menschenmassen über den schon stark belasteten Marmorboden an den überladenen Schaufenstern dahin und ich schaute oft ‘gen Himmel, der leicht bedeckt erschien.
Im schon etwas abgekühlten Verona ließen mich die prunkvollen und überladenen Schaufenster und Parfümerie-Geschäfte mit schon leicht aufdringlicher Werbung eher kalt.
Ein Geschäft reiht sich an das andere und alle gleichen sich, wie ein Ei dem anderen.
Als sich die Prunkmeile dem Ende näherte und auf die Via Cappello stieß, machte ich kehrt.
Schon fuhren an diesem späten Nachmittag die Poliermaschinen über die glänzende Marmorschicht, die man sich noch nicht einmal im Wohnzimmer vorstellen kann und hier liegt sie quasi auf der Straße, manchmal allerdings schon leicht lädiert.
… plötzlich steht Wagner vor mir
Der Rückweg Richtung Arena ist genauso, wie der Hinweg, aber eben nur andersherum.
Wenn man bedenkt, wer hier schon prunkvoll residiert hat in den langen zurückliegenden Jahrzehnten und dann auf diesem Boden…
Leicht wechselte mein Blick zwischen unten und oben.
Die Menschen schossen an mir vorbei, wie das Wasser eines Flusses,
doch plötzlich blieb ich wie angewurzelt stehen…
…zwischen den von vorne herannahenden Menschen kam mir plötzlich
Richard Wagner entgegen.
Seine Körpergröße von 1,66 Meter ging fast im Strom der anderen unter.
Er stoppte genau wie ich, so wie man kurz stehen bleibt, wenn
einem ein anderer Fußgänger entgegen kommt und man nicht ausweichen kann.
Diesmal machte ich nicht den Fehler, den ich schon oft gemacht habe – ich ging nicht einfach weiter und dachte, dass ich mich getäuscht habe, sondern blieb sofort vor ihm stehen.
“Herr Wagner, dass ich Sie hier treffe???”
Er reagierte sofort, was mir zeigte, dass ich mich nicht geirrt hatte und antwortete auch umgehend.
“Ich habe Sie schon öfter gesehen, Sie verfolgen mich durch ganz Europa, meine Frau machte mich schon oft darauf aufmerksam…”
“Wo ist denn Ihre Familie, ist sie auch in Verona?”, fragte ich etwas verlegen und immer noch leicht nervös, aber mit der Gewissheit, dass ich mich nicht getäuscht hatte.
“Wir sind auf der Reise nach Süd-Italien, meine Frau und die Kinder sind noch ein paar Tage in Deutschland geblieben und kommen nach…”
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, doch dann schoss es aus mir
heraus.
“Ich möchte Sie auf einen Kaffee einladen, werter Meister, tun Sie mir den Gefallen und erfüllen Sie mir den Wunsch…!”
“Am Anfang der Gasse ist ein hervorragendes Café, ganz nobel, richtig in Ihrem Stil.”
Er schaute mich fragend an.
“Woher wollen Sie meinen Stil kennen?”
“Na ja”, sagte ich, “es war schon immer etwas teurer nobel zu leben.”
“Aber ich lade Sie ja ein.”
Er willigte ein und wir gingen durch den mit Säulen gesäumten Eingang des Cafès.
Ich strebte sofort in das erste Geschoss des schmalen Gebäudes, wo ich hoffte, mehr Ruhe für ein Gespräch zu finden.
Als wir in einer ruhigen Ecke Platz genommen hatten, fragte ich, wo er denn sein Quartier in Verona habe.
“Hotel Colomba d’Oro, in der Nähe der Arena, was besseres war nicht mehr frei!”, antwortete er.
Als ich vorher daheim mir ein Hotel in Verona aussuchte, sprengte das Colomba meine finanzielle Schmerzgrenze und hätte mich pleite gemacht.
Mein etwas bescheideneres Quartier lag aber nicht weit entfernt.
Als wir Platz genommen hatten, bestellte ich zwei Cappuccino und zeigte sofort mit Stolz meine große Verehrung für sein Werk.
“Sie können sich nicht vorstellen, was Ihr Werk für mich bedeutet, es hat mich mein ganzen bisheriges Leben begleitet, es hat mir die Türen zu ganz anderen Welten geöffnet, ich habe ganze Passagen aus Ihren Werke auswendig gelernt und oftmals wache ich nachts auf mit einem Motiv aus einer Ihrer Werke im Ohr…”
Als ich immer begeisterter in einen Monolog verfiel, unterbrach er mich.
“Was machen Sie denn in Verona, wo meine Frau Sie ja schon in südlicher gelegenen Städten Italiens gesehen hat…?”
“Oder wollen Sie nur einmal die Arena sehen…?”, sagte er lachend.
Ich überging die Frage einfach und wegen der knappen Zeit kam ich sofort auf den Kern der Sache zu sprechen.
“Wie ich hörte, planen Sie ein neues Werk – etwas Religiöses, was wird es sein, wie…, wann…, warum?”, sagte ich schon leicht stotternd.
“Ach diese Italiener, mein damaliges Treffen mit Rossini in Paris hat mir wieder gezeigt, wie überheblich sie alle sind.”
“Was bringt die Arena Jahr für Jahr, immer nur Verdi, Verdi, Verdi…”
“Ich schaffe etwas Neues, was es bisher noch nie gegeben hat…!”
Ich zuckte zusammen, weil er endlich auf meine Frage einging.
“Schon immer wollte ich ein buddhistisches Werk schaffen, ein Entwurf liegt ja schon lange in der Schublade, doch habe ich noch nicht weiter
daran gearbeitet.”
“Ich werde es wahrscheinlich ganz auflösen.”
“Aber warum das, Sie können es doch nicht ganz fallen lassen!”, sagte ich leicht enttäuscht.
“Ich habe auch nicht vor, es fallen zu lassen, ich will es nur umformen”, sagte er in klärenden Ton.
“Bitte erzählen Sie mir mehr davon”, sagte ich schon leicht weinerlich und von Erwartung erfüllt.
“Ich werde mit dem Werk die Kluft zwischen Kunst und Religion überwinden, denn nur die Kunst ist dazu ausersehen, den Kern der Religion zu retten.”
Langsam geriet ich in einen tranceartigen Zustand und konnte nicht fassen, dass der Meister hier in Verona in einem Café vor mir saß und mich in seine Pläne einweihte.
Etwas, was vielleicht außer den engen Freunden, noch kaum einer
wusste.
“Aber die Religion gehört doch in die Kirche”, sagte ich etwas verlegen.
“Nein, dass sehen Sie wie viele andere falsch”, konterte er.
“Denn als einst die Kunst am Ende, begann die Religion, als dann die Religion schwieg, ergriff die Kunst wieder das Wort!”
“Lesen Sie erst einmal meine Schrift ‘Kunst und Religion’, bevor Sie
glauben sich ein Urteil erlauben zu können!”
Ein bisschen war ich über seinen Ton doch erschrocken, ließ aber nicht locker.
“Und wie soll diese Kluft überwunden werden?”, fragte ich ganz dreist auch auf die Gefahr hin, dass er mich abwies.
“Ich will das Werk in den liturgischen Universalzusammenhang mit den Religionen der Welt setzen, es soll keine Verneigung vor dem Kreuz sein, wie Freund Nietzsche meint, sondern eine Erlösung der Religion durch die Kunst!”
Langsam kam bei mir doch leichtes Unverständnis auf.
“Nach dem Untergang in der ‘Götterdämmerung’ soll es eine Wiederauferstehung werden und wird einzig auf einen Tag platziert und zwar Karfreitag!”
“Den höchsten Schmerzenstag”, ergänzte ich.
“An diesem Tag hat nicht nur Christus am Kreuz gelitten und durch seinen Tod die Menschheit erlöst, sondern…”
Langsam fing ich schon an zu zittern.
“…sondern?”, warf ich mich Spannung erfüllt ein.
“…sondern auch ich will mit diesem Werke das Grauen in der Welt
überwinden!”
Ich musste tief Luft holen und bestellte noch zwei weitere Cappuccino.
“Der Mensch ist etwas, was überwunden werden muss!”, fiel mir da
sofort ein.
“Ach lassen Sie die Sprüche von Freund Nietzsche, der versteht es so oder so nicht…!”
“In diesem Werk steht die Ethik des Mitleids im Mittelpunkt”, fuhr er fort.
“Mitleid ist Dekadenz”, sagte ich und schluckte verlegen wieder Nietzsche zitiert zu haben.
Plötzlich wurde Wagner doch etwas ungehalten und laut.
Ich schaute im Café herum und hatte Bedenken, dass wir unangenehm auffielen.
Seine Erregung legte sich aber umgehend wieder.
“Dieses Werk wird in die Weltgeschichte eingehen und ausschließlich für mein eigenes Festspielhaus sein. Es darf außerhalb nicht aufgeführt werden!”
“Wie ich sehe, haben Sie ja einige meiner Grund-Ideen schon verstanden, mal sehen, ob Sie auch mein neues Werk verstehen werden?”
“Aber wie soll es denn heißen?”, fragte ich voller begeisterter Spannung.
“Parzifal”, sagte er, “ich werde den Namen allerdings verändern in
‘Parsifal’ .”
“Auch die Ideen Schopenhauers werden einen zentralen Platz bekommen, genau wie die Religionen der Welt, vom Christentum bis zum Buddhismus.”
“Mal sehen, ob es einer versteht”, sagte er schon leicht ungeduldig auf seinem Stuhl hin und her wackelnd wie ein kleines Kind.
“…mal sehen, junger Mann, ob Sie es verstehen?”
“Ich werde es verstehen, so wie ich alle Ihre Werke verstanden habe”,
konterte ich.
“Es wird noch eine Menge Arbeit werden, bis ich die Komposition abgeschlossen habe, es wird weihe- und würdevoll werden, anders als alle anderen Werke, die Basis einer Kunst-Religion, denn nur mein Werk ist dazu ausersehen, den Kern der Religion zu retten!”
Ich schaute ihn verzaubert und zustimmend an.
“Jetzt muss ich aber langsam gehen, denn gegen Sechs kommen meine Frau und die Kinder mit der Bahn an und ich muss sie abholen.”
Ich brachte kein Wort mehr heraus und willigte ein.
Schnell beglich ich die Rechnung und begleitete ihn zum Ausgang.
Nach einem eher kühlem Abschied verschwand Wagner in dem Strom der Menschen Richtung Arena, ich konnte ihn schon nach kurzer Zeit nicht mehr sehen.
Nur mit einem Bein auf der Via Mazzini und deren Marmorboden, stand ich wie eine zu Stein gewordene Säule.
Hinausdrängende Besucher des Cafés schoben mich weiter auf die Straße und ich überlegte, wohin ich eigentlich gehen musste.
“Richtung Arena, Richtung Hotel, klar…!”
Zurück im Hotel schlief ich die ganze Nacht keine Minute und grübelte über die Punkte nach, die Wagner mir zu seinem “Weltüberwindungs-Werk” einweihend anvertraut hatte.
Vielleicht gibt es zum jetzigen Zeitpunkt nur wenige, die in das Werk eingeweiht sind, und ob es die Menschheit verstehen wird, darüber war ich mir bei meinem Abschied von Verona auch nicht klar…und ob es heute alle verstehen, das bezweifle ich auch.
Was lernen wir daraus :
“Die Kunst ist dazu ausersehen,
den Kern der Religion zu retten”
(Richard Wagner)
* siehe auch meine Bilder-Galerie Verona :
* sh. auch meinen Beitrag “Schopenhauer in Frankfurt”
* sh. auch meinen Beitrag “Nietzsche in Weimar”
*sh. auch meinen Beitrag “Goethe in Weimar”
*sh. auch meinen Beitrag “Ein Besuch bei Abbé Liszt”