“Weile auf der Meile ohne Eile”
Städte mit Hauptachsen haben ja einen Vorteil, man kann sich nicht verlaufen, oder wenn, kann man sich immer an der Hauptmeile orientieren.
Außerdem sind nächtliche Wandlungen immer so, dass man sich letztendlich wieder Richtung Hauptmeile wenden kann.
UMBRIEN ist ja eines der wenige Länder in Italien ohne Zugang zum Meer.
Fast alle Städte in Umbrien haben den Charakter, dass sie hoch auf dem Berg liegen, man also erst einmal einen gewissen Aufstieg leisten muss, bis man in den Genuss des Historischen Zentrums der jeweiligen Stadt kommt.
Wenn man aus dem Bahnhof von Perugia kommt, glaubt man erst gar nicht, dass man in Perugia ist, ist man ja auch (noch) nicht, dann kommt ja erst das Anstrengende.
PERUGIA wird ja die stolze Hauptstadt Umbriens genannt.
Dies kann ich mir nur dahingehend erklären, dass man stolz sein kann, wenn man oben ist…
Der Corso Pietro Vannucci ist die eigentliche Hauptachse von Perugia.
Es ist schon verwunderlich, dass Perugia nicht der Handhabung anderer italienischer Städte nachgegangen ist, ihren Haupt-Corso nach dem Freiheitskämpfer Garibaldi oder Vittorio Emmanuele zu benennen, sondern den Namen des Malers Pietro Vannucci genannt Perugino beizubehalten – Perugino heißt soviel wie “aus Perugia stammend”.
Es ist in meinen Augen immer besser, die Straßen und Plätze eher nach Künstlern und Schöpfern zu benennen, als nach Politiker, denn die Werke großer Schöpfer sind unsterblich, während die “Werke” von Politikern schnell verflossen sind.
Diese ca. 1 Kilometer lange, mit Palazzos und Geschäften gesäumte Meile, hat eine Eigenschaft, die man nicht unbedingt als positiv hinstellen kann, bzw. es kommt immer darauf an, wie man es sieht.
Alle Gassen nach links und nach rechts gehen nämlich sturzbachartig in die Tiefe – und wenn man herunter, dann muss man auch wieder hinauf…
Eine Eigenschaft, was dem Bummeln in Seitengassen etwas den Spaß nimmt, das heißt auf Deutsch, dass man lieber oben bleibt, als dauernd herauf und herunter zu gehen.
Klingt verständlich… doch jetzt kommt der Zustand, in dem ich fast jede Stadt zu packen versuche…
…quasi die “Sleep-In-Syndrome” der Stadt erleben, und das ist, diese Stadt in der Nacht zu durchwandeln.
Hier sei von mir diesmal nicht Goethe, sondern ein anderer Italien-Reisender zitiert, den nicht jeder kennt, der allerdings Italien Ende der 50ger Jahre durchstreifte, nämlich H.V. Morton.
Der englische Geschichtsforscher, Journalist und Reise-Schriftsteller machte auch einen Stopp in Perugia und schildert seine ersten Eindrücke von der Stadt in dem ersten Band von “Wanderungen in Italien” (sh. unten):
“Die ersten Eindrücke in einer Stadt sind oft die lebendigsten ; bestimmt werde ich den Ausflug in die Bezirke Perugias an meinem ersten Abend nicht vergessen.
Wenn man eine mittelalterliche Stadt recht genießen will, muss man nach Einbruch der Dunkelheit ziellos durch Perugia streifen. Massive Gebäude säumen bergauf und bergab enge Gassen und Wege, zyklopische Bogengänge führen über langgestreckte Stufen nach oben, und einmal geriet ich auf eine Terrasse, von der ich jenseits einer Schlucht Paläste und Kirchen sich mit roten Dächern übereinander den Berghang hinaufziehen sah…” (“Wanderungen in Italien”, S. 561).
Hierbei sind zwei Dinge herauszuheben, mit denen ich mit Morton voll übereinstimme, bzw. die von mir sein könnten – erstens, dass der erste Eindruck von einer Stadt immer der ist, der am lebendigsten ist und hängenbleibt, und die Tatsache, dass das Genießen einer Stadt am besten nach Einbruch der Dunkelheit möglich ist.
Des weiteren schreibt Morton von einem ziellosen Durchstreifen der Stadt und lobt die engen Gassen bergauf bergab, was zeigt, dass man auch Gefallen an den “stürzenden” Seitengassen in der Dunkelheit haben kann.
Trotzdem ist natürlich der Start und das Zurückkehren immer wieder der Corso…
Wie dem auch sei, bringt Morton viel Positives über Perugia zu Papier, während Goethe es nur mit wenigen Worten erwähnt.
Bei meiner lang ausgedehnten Vorarbeit zu dieser Reise, stieß meinem fotografischen Blick immer wieder ein Motiv ins Auge, ob am Tag oder in der Nacht…
Wenn man also das Thema Perugia bei Nacht angeht, kommt man mit oder ohne Morton um die Hauptachse Corso Pietro Vannucci einfach nicht herum.
Die meisten Fotos, vor allen Dingen in der Dunkelheit, stellen auch den Endpunkt dieser Hauptachse, den Piazza IV Novembre mit seinen anliegenden geschichtsträchtigen Gebäuden und Palästen dar.
Die Kathedrale (Cattedrale di San Lorenzo), den Brunnen, der Collegio Del Cambio, der Palazzo dei Priori und weitere palastartige Bauten, die charakteristische Züge von Städten wie Florenz , Siena, Bologna und Ferrara haben, säumen diesen Platz, was natürlich das Bild nach der Dämmerung prägt.
Eine Auffälligkeit, die ich auch an der Basilica di San Petronio in Bologna bemerkte, ist die, dass die Cattedrale di San Lorenzo hier in Perugia auch nur bis zu einem gewissen Punkt mit Marmor verkleidet ist, und dann nicht mehr…
Man sieht, dass nicht nur in der heutigen Zeit, schnell die Zügel strammer gezogen wurden, wenn es ums Geldausgeben geht.
Die Mittel für die volle Verkleidung des Gebäudes waren aufgebraucht, und der Nachwelt wird nur ein halb verkleidetes Objekt überlassen, was man bei den Sparzwängen von heute bestimmt nicht mehr weiter verzieren kann.
Da hilft auch nicht die zum Gruß erhobene Hand von Papst Julius III, der auf einem marmornen Sockel in segnender Gebärde sitzt – er sitzt zwar auf Marmor, doch der Kirche blieb der Marmor vorenthalten.
Hier möchte ich noch einmal eine andere Italien-Reisende zitieren, nämlich Fanny Lewald, die als Frau (!) 1845/46 durch Italien getourt ist und in ihrem Buch (“Italienisches Bilderbuch”, sh. unten) darüber berichtet :
“Auf dem sehr schönen Hauptplatze befindet sich vor der prächtigen Kathedrale und dem großen Stadthause ein Springbrunnen von schönster Form, der reichlich Wasser spendet. Daneben ist eine Erzstatue des Papstes Julius des Dritten von Danti, welche sehr berühmt ist, mir jedoch nicht gefallen hat. Sie ist sitzend dargestellt ; der antike Sessel ist aber sehr schmal, und der Papst sieht dadurch unfrei in seiner Bewegung aus, wie jemand, der schlecht sitzt und lieber aufstände…” (“Italienisches Bilderbuch”, Seite 130).
Dem Papst scheint das Sitzen (und das seit langen Jahrzehnten) doch nicht so gut zu gefallen.
Allerdings laden die weiten Stufen dieses Gotteshauses am Tag und in der Nacht zum Platznehmen ein, was die Tatsache erklärt, dass die meisten Fotos des Platzes von hier entstanden sind.
Aber jahrzehntelang möchte ich hier auch nicht sitzen.
Wie in vielen anderen Städten Italiens wird dieser Hauptplatz von einem Brunnen (Fontana Maggiore) geziert.
Das bringt vor allen Dingen des Nachts noch etwas mehr an Emotionen, da das Plätschern des Wassers alles untermalt, vor allem, wenn so oder so mehr Ruhe hier herrscht, als am Tag.
Wenn man sich nun dem Piazza IV Novembre in den nach Süden schmaler werdenden Corso Pietro Vannucci in abendlicher Stunde bewegt, fallen einem eine große Anzahl von beleuchteten Schaufenstern von Boutiquen, Souvenirläden, Schmuckläden, Nobel-Bekleidungsgeschäften, Parfümerien etc. auf.
Es zeigt sich, dass auch in dieser leicht abgelegenen mittelalterlichen Stadt der Wohlstand Einzug gehalten hat.
Sogar die edlen Paläste, die an dieser einst mit Kopfsteinpflaster belegten Straße gesäumt stehen, haben Boutiquen von nobler Kleidung in ihren Schaufenstern im Erdgeschoss platziert.
Das heißt, dass edle, mit Wappen geschmückten Bauten, nicht das Einzige sind, was die abendliche Stimmung prägt, sondern auch der Reiz, sich in dunkler Stunde die schönen zum Kauf einladenden Schaufenster anzusehen, was auch die meisten, der hier noch bummelnden Menschen machen.
Nun ist es ja kein großer Kraftakt, diesen Corso von Norden nach Süden zu durchschreiten, weil er ja kaum mehr als einen Kilometer lang ist.
Um so mehr man nach Süden auf diesem kurzen Parcours kommt, um so mehr erweitert sich das Ganze und die Geschäfte lassen an Anzahl nach.
Im unteren Teil gen Süden zeigt sich rechterhand das kleine Teatro Pavone, einzelne noblere Hotels, linkerhand der parkähnliche Piazza Italia und an seinem Ende der geniale Ausblick vom Giardini Carducci Richtung Süden.
Das Ende bzw. der Anfang der Corsos wird geprägt durch ein Luxushotel auf der einen Seite, die in ihrer Werbung mit dem genialen Ausblick protzen, und dem kleinen Park (Giardini Carducci) auf der anderen Seite, und dessen plätschernden Springbrunnen, der den Nachtspaziergang abrundet.
Von diesem Anfangspunkt der “Hauptmeile” bietet sich einem ein genialer Blick weit nach Süden ins umbrische Land.
Auf einem Hinweisschild erkennt man die Punkte, die man von hier aus sehen kann…
Des Nacht ist es allerdings kaum möglich, die weit entfernt liegenden kleinen Orte wie Foligno, Spello und Trevi zu erblicken und wenn, dann nur als kleine Lichtpunkte.
Deshalb zog es mich auch schnell wieder in die Gegenrichtung zum Piazza IV Novembre, doch konnte ich mir, genau wie den noch Bummelnden, nicht nehmen lassen, doch immer wieder einen Blick in die hell erleuchteten Schaufenster zu werfen, obwohl ja nun deren Herberge, die mittelalterlichen Palazzos, eher eine Augenweide sind.
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Literatur :
* H.V.Morton (“Wanderungen In Italien” – 1. Buch Nord-Italien, Scheffler Verlag Frankfurt a.M., 1964, 622 Seiten)
* Fanny Lewald (“Italienisches Bilderbuch” – Rütten & Loening-Verlag Berlin 1983, 486 Seiten)
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* weitere Fotos aus Perugia auf meiner Bildergalerie Italien :