“Die Kunst des Weglassens”
Die Rückfahrt von Bayern Richtung Fulda im Juni 2003 ließ mich im
historischen Bamberg einen Stopp machen.
Zu dem Zeitpunkt war ich noch nicht in Venedig gewesen, doch zeigte sich, warum Bamberg oft das “Klein-Venedig” genannt wird.
Die aus dem 15. Jahrhundert stammenden Reihen alter Häuser einer ehemaligen Fischersiedlung am linken Regnitz-Arm, stehen direkt am Wasser, was jeden Anreisenden natürlich an die Lagunenstadt denken lässt.
Diese Siedlung besteht aus rund 30 erbauten Wohnhäusern und liegt am nördlichen Ufer der Regnitz zwischen dem ehemaligen Hafen “Am Kranen” und der Markusbrücke.
Die Dächer sind nicht mehr ganz gerade, haben hübschen Balkone, winzige Vorgärten und Bootsstege.
Die idyllische Lage ist noch heute ein Grund für die Begehrtheit der
Häuser.
Die Zeit drängte Anfang Juni 2003, somit musste eine Schifffahrt, bei der man die reizvollen Häuserzeilen noch besser genießen kann, für mich wegfallen.
BAMBERG an sich hat ein mehr als 1.000 Jahre gewachsenes historisches Stadtbild. Die Welterbestadt Bamberg wird von einem unversehrt erhaltenen Altstadtensemble geformt.
Über 2.000 denkmalgeschützte Häuser und das jahrhundertealte
Gärtnerviertel bilden ein Gesamtkunstwerk, wie man es aus italienischen Städten kennt. Spektakuläre Ornamente, reiche Verzierungen und Details schmücken die Fassaden.
Dieser Tatsache verdankt die Stadt die Aufnahme der Bamberger
Altstadt in die Welterbe-Liste der UNESCO im Jahr 1993.
Die altehrwürdige Kaiser- und Bischofsstadt wird überragt vom Kaiserdom und stellt ein denkmalgeschütztes Ensemble-Kunstwerk zwischen Mittelalter und bürgerlichen Barock dar.
Die unverändert erhaltene Altstadt umfasst die drei historischen Stadtzentren Berg‑, Insel- und Gärtnerstadt und lohnt sich einen Bummel durch die Gassen und Plätze zu machen.
Der Dom St. Peter und St. Georg gehört zu den Kaiserdomen und ist mit seinen vier Türmen das beherrschende Bauwerk der Altstadt.
Im Innern befinden sich der Bamberger Reiter, das Grab des einzig heilig gesprochenen Kaiserpaares des Heiligen Römischen Reiches, Heinrich II. und Kunigunde, sowie mit dem Grab Papst Clemens II das einzige Papstgrab in Deutschland.
In den Gassen zeigen die ehemaligen Zünfte die Symbole ihrer Kunst und Tätigkeit, was ich auch immer wieder in baltischen Metropolen gesehen habe.
Handwerk hat nun mal goldenen Boden.
…die Kunst des Weglassens
Wenn man über die Untere Brücke über den linken Regnitzarm nahe des Hochzeithauses, des Alten Schlachthofs und des Alten Rathauses schreitet, fällt einem sofort eine Bronze-Skulptur am oberen Ufer ins Auge, und zwar die Bronze-Plastik…
…Centurione I von Igor Mitoraj aus dem Jahre 1987.
Ich nehme an, dass Centurione I. Zaccaria aus einer Patrizier-Dynastie gemeint ist. Dieses historische Vorbild lebte von 1336–1376 und entstammte einer genuesischen Adelsfamilie.
* Centurione I
Ähnlich wie andere Werke Mitorajs weist auch Centurione I Merkmale der Antike in Verbindung mit modernen Elementen des Verfalls auf.
Hierbei orientiert sich der Künstler an klassischen Meistern wie etwa Michelangelo und fügt seinen Werken zusätzlich gezielte Beschädigungen zu.
So stellt die in Bamberg stehende Plastik das überdimensionale Fragment eines jugendlich wirkenden Gesichts dar.
Der Statue fehlen jedoch nicht nur große Teile des Gesichtes und der Hinterkopf, sondern auch beide Augen, was den Betrachter etwas erstarren lässt.
Hiermit spielt der Künstler sowohl auf die Unvollkommenheit der menschlichen Natur, als auch auf ihre Zerbrechlichkeit an.
Nach Bamberg kam Centurione I erstmals im Rahmen einer dreimonatigen Ausstellung von Großplastiken und Zeichnungen Mitorajs im
Jahr 2000. Zwei Jahre später kam es schließlich zum Kauf der Statue durch private Spender.
Seitdem steht sie auf der Aussichtsterrasse der Unteren Brücke.
Damit ist sie wohl eine der am prominentesten platzierten Statuen des Bamberger Skulpturenweges.
* Igor Mitoraj
Das Hauptthema von Igor Mitorajs (1944–2014) Skulpturen ist der menschliche Körper, seine Schönheit und Zerbrechlichkeit, und die tieferen Aspekte der menschlichen Natur, die unter dem Einfluss von Zeit und Umständen dargestellt werden.
Er orientierte sich an klassischen Werken von Michelangelo und Antonio Canova und greift gern auf Gestalten der griechischen und römischen Mythologie zurück.
Es finden sich wiederkehrende Themen wie Ikaros, Tyndareos, Centauro, Eros, Mars oder Gorgona.
Durch gezielte Beschädigung der Oberfläche mit Rissen oder ganz weggelassene Teile einschließlich häufig leerer Augenhöhlen, zeigt Mitoraj die Unvollkommenheit der menschlichen Natur und die leichte Verwundbarkeit des Menschen.
Mitorajs Stil, die Interpretation der Antike in Verbindung mit klaren Akzenten des Modernen, ist zu einem weltbekannten Markenzeichen seiner monumentalen Kunst geworden.
* Interpretation
Bei den Großplastiken von Mitorajs erkennt man unschwer die Vorbilder aus der griechischen und römischen Kunst und es erinnert einen an Ausgrabungen alter historischer Stätten. wie z. B. Pompeji, wo ja auch oftmals Teile der Skulpturen fehlten, was allerdings andere Gründe haben mag.
Wenn man dieses tiefergreifend zu interpretieren versucht, zeigt es auch einen Zerfall des Geistes und die Aufhebung der Beständigkeit der Erinnerung.
Wenn man es eher positiv zu interpretieren versucht, zeigt sich hier nach meiner eigenen Definition die Kunst des Weglassens.
Das Auge sieht und der Kopf arbeitet, um so mehr er arbeiten muss, um so interessanter ist das Werk für ihn, egal ob eine Fotografie, ein Gemälde oder eine Skulptur.
“Große Dichter erkannt man daran, was sie uns verschweigen und nicht, was sie uns mitteilen”,…
...dies erkannte schon Richard Wagner, der die Kunst des Weglassens (und des Schweigens) in “Tristan und Isolde” auf die Spitze trieb.
Wenig ist halt mehr, doch hierbei (Centurione I) fehlen allerdings Teile, die für den Menschen unerlässlich sind, wie zum Beispiel die Augen.
Deshalb schocken den unvorbereiteten Betrachter die Monumental-
Plastiken Mitorajs eher ab und man muss zweimal hinschauen, bevor man das Werk erfassen kann.
“Das teilweise Vorhandene ist nur erkennbar, wenn man sich das
Fehlende hinzudenkt”, …
…dies ist ausnahmsweise mal nicht von Richard Wagner, sondern von mir.
Abschließend stellt sich die Frage, ob Herr Mitorajs dies nun mit seinen Werken ausdrücken wollte (?)…
Wenn nicht, so mag er meine gewagte Interpretation entschuldigen.
Was lernen wir daraus :
“Man sieht immer dann mehr,
wenn man das sieht, was man nicht sieht”
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* Igor Mitorajs auf der Kunst-Seite artnet
* Facebook Igor Mitoraj
* Sehenswürdigkeiten Bamberg