“Wahn oder Wahrheit”
“Die Zeit ist vorbei,
als die Kirche das Monopol des Nachdenkens besaß…”
(Nietzsche)
Es gibt zwei Dinge, die immer wieder die Geister der Menschen anregt, und das sind Legenden und Aberglaube (als Gegenpol zum Glaube).
Friedrich Nietzsche war ja nun ein ziemlich strikter Gegner der Kirche und des Christentums – in seinem “Der Antichrist” geht dieses schon in Beschimpfungen über, die sogar denjenigen erschrecken, der kein Christ ist.
Somit wollte man ihn nach seinem Tode im Jahr 1900 in Weimar von Seiten der Kirche nicht kirchlich bestatten…
Die Villa Silberblick, wo Nietzsche in geistiger Umnachtung (Progressive Paralyse) in den pflegenden Händen seiner Schwester am 25. August 1900 starb, ist schon einen Besuch wert.

Als ich im Jahr 2007 in dem kleinen Dorf Röcken bei Lützen unterhalb von Leipzig im dichten Schneetreiben an seinem Grab stand, dachte ich, “…na, watt hat das allet gebracht?”
So viel Flucherei auf die Kirche und dann doch noch bestattet…
In den “Die Fröhliche Wissenschaft” aus dem Jahre 1882 widmet Nietzsche jemand anderem das “4. Buch”…
…und das ist der heiligen SANCTUS JANUARIUS (San Gennaro).
…der Märtyrer, der im Jahre 305 n.Chr. in Pozzuoli westlich von Neapel enthauptet wurde.
Klingt nicht ganz ungewöhnlich, das hat es in der Geschichte ja schon oft gegeben – nur hierbei soll eine Frau das Blut des Heiligen direkt nach seinem Tode in einer, bzw. zwei Ampullen aufgefangen haben, die heute in den Katakomben (Barock-Kapelle) des Domes von Neapel ruhen (und zwar in getrockneter Form).
Im Jahre 313 sollen die Gebeine und die Ampullen nach Neapel gebracht worden sein.
Klingt auch noch ganz verständlich…
Nun gibt es jedes Jahr am Anfang Mai, vor allem am 19. September
und Mitte Dezember ein Ereignis, was nicht so ganz gewöhnlich ist, denn an diesen Tagen wird das getrocknete Blut des Heiligen aus den Katakomben durch den Erz-Bischof vor den Zuschauern und “Gläubigen” in den Dom geholt und langsam werden die, in einer ringförmigen Halterung befindlichen fest verschlossenen Ampullen, hin- und her bewegt.
Klingt wiederum nicht ungewöhnlich…

Doch dann passiert etwas, was sehr ungewöhnlich ist…
…das Blut verflüssigt sich (oder nicht).
Der neben dem Bischof stehende Laienbeobachter schwenkt bei erfolgreicher Verflüssigung sein Taschentuch, als Zeichen für die bangende Menschenmenge, dass alles gut ist.
Die Glocken des Domes läuten und die Menge atmet bei dieser feierlichen Prozession auf vor Erleichterung und der Applaus dröhnt los.
Und das alles hat einen Namen, nämlich das…
Blutwunder von Neapel
Bei erfolgreicher Verflüssigung geht alles in Neapel seinen gewohnten Gang weiter, doch wenn es hart bleibt und nicht flüssig wird, dann kommt eine große Katastrophe auf die Stadt zu.
Und dieses “Blutwunder” ist seit dem Jahr 1389 bezeugt und wird an den besagten Tagen in einer Art Stadtfest wiederholt.
Die Protokollführung des “Blutwunders” ab dem Jahre 1649 zeigt immer wieder Verflüssigung auch außerhalb der beiden Tage.
Jetzt ist natürlich die Frage, hat es sich eigentlich schon einmal nicht verflüssigt (?).
Ja,…denn im Jahre 1980 war dies vor den betrübten Augen der gespannten Zuschauer der Fall, und in diesem Jahr traf Neapel ein schweres Erdbeben.
Jetzt sagen die einen, alles Quatsch und die anderen schwören darauf.
Faktum ist, dass ein Chemie-Kurs der Mittelstufe eines Gymnasiums ohne Schwierigkeiten eine Mixtur aus Naturprodukten wie Eierschalenkalk, etwas Staub und roter Flüssigkeit herstellen kann, was in einem geleeförmigen Zustand bei Stillstand verfällt und bei Bewegung (oder Wärmezufuhr) sich verflüssigt.
Und diese Stoffe waren schon zum Zeitpunkt des Todes des Heiligen bekannt und vorhanden.
Die Aufforderungen von Kriminalbiologen, die Ampullen zu öffnen, werden bis heute drastisch abgelehnt, aus Rücksicht und Pietät vor dem Heiligen.
Dies alles klingt als Gegenpol zu dem kirchlichen Glauben nicht schlecht, vor allem für so einen Christenhasser wie Nietzsche, denn Aberglaube ist besser, als gar kein Glaube.
Hier sei wiederum Nietzsche zitiert :
“Die hohen Menschen unterscheiden sich von den niederen dadurch, dass sie unsäglich mehr sehen und hören und denkend sehen und hören – und eben dies unterscheidet den Menschen vom Tiere und die oberen Tiere von den unteren. Die Welt wird für den immer voller, welcher in die Höhe der Menschlichkeit hinaufwächst…”
(“Die Fröhliche Wissenschaft”, 4. Buch)
Es ist natürlich die Frage, was Nietzsche unter “Menschlichkeit” versteht und ob die Kirche (und das Christentum) wirklich so unmenschlich ist (wie er meinte).
Darüber kann man natürlich streiten…
Das könnte man dadurch interpretieren, indem ich mich einmal wieder selbst zitieren :
“Man muss das sehen, was andere nicht sehen, …denn die wahre Welt fängt da an, wo man aufhört sie zu sehen…”
Klingt schon leicht metaphysisch.
Nun habe ich irgendwann, nachdem ich alle Hauptwerke Nietzsches bis zu viermal gelesen hatte, mich von seinem radikalen Denken, was oftmals schon wirr ist und sich selbst widerspricht, leicht abgewandt.
Dies hat aber auch den Grund der ca. 7.000 Seiten eines anderen, der bei mir im innersten Zirkel steht, und das ist Arthur Schopenhauer.
Denn um so mehr Schopenhauer, um so weniger Nietzsche.
Trotz aller Philosophie hatte ich im Jahre 2012 meinen zweiten Aufenthalt in Neapel so gelegt, dass der 19. September mit seinem “Blutwunder” in diese Zeit fiel.
Zurückgekehrt von der Wanderung an der Amalfiküste, schritt ich am kommenden Morgen gespannt und schon leicht innerlich erregt von meinem Hotel in der Altstadt Richtung Dom (Santa Maria Assunta).

Das Stadtfest zu Ehren des Stadtpatrons San Gennaro (Sanctus Januarius) war schon seit den frühen Morgenstunden in vollem Gange.
Die Via Duomo war für den Autoverkehr gesperrt und alles war überfüllt mit Verkaufsständen mit Süßigkeiten, Maiskolben und Utensilien des Heiligen Gennaro in einer Art volksfestartigem Ritual.
“…na ja, das hilft dem Enthaupteten auch nicht mehr…”, dachte ich beim Betrachten des ganzen Spektakels.
Schnellen Schrittes hatte ich eigentlich nur ein Ziel, und zwar einen guten Platz im Dom zu ergattern.
Es waren noch einige wenige Stühle im überfüllten Dom im Seitenbereich frei, sodass ich wenigstens erst einmal sitzen konnte.
Die Bandscheibe macht mir seit einigen Jahren doch schwere Probleme, da ist das Sitzen auch keine gute Lösung, aber trotzdem…
Von den Gebeten in ekstatischer Form von Frauen in den ersten Reihen begleitet, kam langsam Spannung auf.
Und da viele der Menschen vor mir aufstanden und sich reckten, stand ich natürlich auch auf, in der Hoffnung etwas zu sehen, auch wenn sich das Ganze noch mindestens eine halbe Stunde hinzog.

Als ich mich umdrehte, war auf einmal mein Stuhl verschwunden, eine ältere Dame hatte ihn dreist ergriffen, um es sich gemütlich zu machen…
Davon ließ ich allerdings nicht den eigentlichen Grund meines Wartens aus den Augen.
Gegen 13:00 Uhr kam die Stunde der Wahrheit, der Erz-Kardinal schritt in Begleitung von zwei Priestern in die Katakomben, um das Blut zu holen. Jetzt wurde es ganz ruhig im restlos überfüllten Dom…
Mit einem gekrönten Stab, der im oberen Bereich einen Ring hat, indem die beiden Ampullen hinter Glas sind, schritt er in Richtung Altar.
Nach kurzer Zeit des Hin- und Her-Bewegens ergriff der neben ihm stehende Priester sein Taschentuch und gab durch Winken das Zeichen, dass das Wunder eingetreten sei.
Alle brachen in Jubel und Applaus aus, die Freude kannte keine Grenzen, es läuteten die Glocken und ein gewisses Aufatmen ging durch die erregte Masse.
“…na, Gott sei Dank…!”, dachte ich.
Im Folgenden schritt der Priester hinter einer Absperrung mit dem Stab und den Ampullen vor den Augen der Zuschauer her und zeigte ihnen von Nahem die Verflüssigung.
Als sich alles ein bisschen aufgelockert hatte, ging auch ich näher heran und sah mir einen kurzen Moment das wirklich flüssige Blut an.
Man konnte die Ampullen jetzt auch noch küssen, was allerdings (für mich) zu weit geführt hätte.
Der Stab mit den Ampullen bleibt nun mehrere Tage unverhüllt nahe dem abgesperrten Altar stehen, wenn draußen weiter gefeiert wird.
Mit leicht klopfenden Herz, aber doch erleichtert, stürzte ich mich auch in die Menge vor dem Dom, denn Feiern können die Italiener ja…
Jetzt ist natürlich die Frage, was passiert wäre, wenn das Blut sich nicht verflüssigt hätte …(?), aber dies hatte ich an den Tagen meines zweiten Aufenthaltes in Neapel verdrängt…
Was lernen wir daraus :
“Die wahre Welt fängt immer da an, wo man
aufhört sie zu sehen”
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*sh. auch meine Fotos Neapel in meiner Bilder-Galerie Italien :
Aktuell (Anfang Jan. 2021):
Das Blut verflüssigte sich bei dem Ritual im Dezember 2020 nicht
(Corona?!)