“Die Erleuchtung von Biebrich”
Gibt es überhaupt noch Punkte auf der Wagner-Europakarte, wo ich noch nicht war ?
Ja, es gibt sie, denn kaum einer schafft es an alle Stätten zu kommen, wo Richard Wagner geschaffen und gelebt hat, seine Ideen hatte oder vorgegeben hat, diese gehabt zu haben.
Und so ein (jetzt geschlossener) Punkt ist die…
Villa Wagner in Biebrich am Rhein
Die einstige “Villa Annica” liegt damals wie heute in der Rheingaustr. 137 direkt an der Promenade am Rhein nahe dem Biebricher Schloss.
Zur Geschichte dieser mondänen Villa, die jeden Vorbeischreitenden stoppen lässt, sei folgendes gesagt.
Dieses Anwesen wurde 1862 von einem Architekten mit dem Namen Wilhelm Frickhofen fertiggestellt.
Diese imposante Villa weist auf der Südseite zum Rhein hin drei Risalite (Fassadengliedernde hervorspringender Gebäudeteil in ganzer Höhe des Gebäudes zur Fassadengestaltung) auf – dieser architektonische Trick gibt der Villa etwas Verspieltes.
Zudem wird die Fassade durch rote Backsteinbänder gegliedert.
Architektur war schon immer eine Kunst auch fürs Auge.
Nun wurde das Gebäude nebst einem umfangreichen Garten an einen türkischen Gesandten mit dem Namen Aristarchi Bey und dessen Frau Anna verkauft und bekam den Namen “Villa Annika”.
Allerdings hielt sich dieser Name nicht lange, denn kurz nach der Fertigstellung zog hier im Jahre 1862 eine (heute) wesentlich bedeutendere Persönlichkeit ein.
RICHARD WAGNER mietete nämlich zwei Zimmer, nachdem er die vertraglichen Verpflichtungen gegenüber dem Mainzer Verleger Franz Schott übernommen hatte, um hier seine “Meistersinger von Nürnberg” zu komponieren.
Die Lage der Villa war für Wagner ideal, weil er die Theater von Wiesbaden und Mainz gut erreichen konnte, genau wie die unmittelbare Nachbarschaft zum Biebricher Schloss, dessen reizender Park zu erquickenden Spaziergängen damals, wie heute einlädt.
Allerdings muss man der Vollständigkeit halber sagen, dass hier, wie so oft nur Teile der “Meistersinger” vollendet wurden.
Die Versdichtung und Teile der Komposition wurden hier realisiert.
Und um das ganze zu heroisieren erfand Wagner, wie fast zu jedem Werk auch hier eine Inspirationslegende, nämlich die sogenannte
“Erleuchtung von Biebrich”.
Das pompöse und majestätische Vorspiel des Werkes war, wie man heute weiß, schon lange vorher in Wagners Kopf entstanden, was er auch in seiner Autobiographie “Mein Leben” zugibt.
Dieses ist es Wert von der heroisierenden Struktur her, einmal etwas näher unter die Lupe zu nehmen.
Aber zuvor möchte ich Wagner (als Schriftsteller) selber zu Wort kommen lassen.
“Beim Herannahmen der schönen Jahreszeit kam mir unter derarthigen gemüthlichen Eindrücken, zu denen die häufigen Promenaden in dem schönen Parke des Biebrichen Schlosses das Ihrige beitrugen, endlich auch die Arbeitslaune wieder an.
Bei einem schönen Sonnenuntergange, welcher mich von dem Balkon meiner Wohnung aus dem prachtvollen Anblick des “goldenen” Mainz mit dem vor ihm dahinströmenden majestätischen Rhein in verklärender Beleuchtung betrachten ließ, trat auch plötzlich das Vorspiel zu meinen “Meistersingern”, wie ich es einst aus trüber Stimmung als fernes Luftbild vor mir gesehen hatte, nahe und deutlich wieder vor die Seele.
Ich ging daran, das Vorspiel aufzuzeichnen, und zwar ganz so, wie es heute in der Partitur steht, demnach die Hauptmotive des ganzen Dramas mit größter Bestimmtheit in sich fassend.”
(Mein Leben Seite 924)
Soweit der kurze Ausschnitt in Wagners (diktierter) Auto-Biografie.
Dieses ist ein exemplarisches Beispiel einer Legendenbildung mit zeitversetzter Überraschungssemantik. Wieso ?
Wagner gibt in diesen Zeilen selber zu, dass das Vorspiel schon längst vorher von ihm geschrieben worden ist (“…wie ich es einst aus trüber Stimmung als fernes Luftbild vor mir gesehen hatte…”).
Sehr geschickt – denn Wagner setzt die vorherige Schaffung dieses symphonischen Vorspiels stark abwertend herunter, es war also (angeblich) in trüber Stimmung nur als Luftbild ihm erschienen, also vollkommen unbedeutend und noch kaum Form habend.
(sh. hierzu mein Beitrag “Das Assunta-Erlebnis von Venedig”)
Dass dieses Prachtstück einer Künstler-Residenz mit so einer Lage und so einem Ausblick jeden begeistert, kann man nicht leugnen, auch wenn man wie ich bei Traumwetter Ende Mai nur auf der darunterliegenden Promenade wandelt.
Wie mag erst der Blick vom Balkon sein und dann in abendlicher Stunde… (?), dachte ich, insgeheim immer mit dem Blicke hoch zum Balkon.
Und hier zeigt Wagner sein Geschick, etwas in ein anderes Licht (im wahrsten Sinne des Wortes) zu stellen, um es höher und bedeutender zu machen.
Denn diese Art “Erleuchtung” kam ja nicht am Tage, sondern bei einem schönen Sonnenuntergange… und damit nicht genug, denn alles war in verklärter (?) Beleuchtung.
Beleuchtungstechnisch ist kaum noch eine Steigerung möglich.
Aber Wagner hebt die ganze Szenerie noch höher, denn sein Blick richtete sich (wie er vorgibt) zum goldenen (!) Mainz und dem davor majestätisch (!) dahinströmenden Rhein, und alles noch in einem prachtvollen Anblick…
…und dann kommt die Überraschung, denn plötzlich trat das Vorspiel wieder klar und deutlich vor seine Seele.
Also nicht vor die Augen, sondern vor die Seele (!)
Die verwendeten symbolhaften Worte zeigen den Fluss der Musik an.
Eine geniale zeitversetze Überraschungssemantik, wie ich immer zu sagen pflege.
Und als Beweis heißt es weiter, dass es (das Vorspiel) genauso war, wie es heute in der Partitur steht, da gibt es nichts dran zu rütteln und zu zweifeln, aus basta…!
Wenn man nun die Wirkung des Vorspiels des “Meistersinger” kennt, was ja schon ein bombastisches symphonisches Werk ist und auch für Konzerte als Einzelstück mit einem komponierten Abschluss vom Schöpfer autorisiert ist, merkt man, wie geschickt Wagner es versteht, die musikalischen Themen so bildhaft darzustellen, als wären sie durch den optischen Eindruck entstanden.
Also eine Inspirationsquelle für ein Umsetzung in Töne, wie sie nicht besser sein kann.
Soweit Wagners schriftstellerische Geschicktheit, seine Ideen auch durch Worte noch besser plastisch in Scene zu setzen, um alles noch stärker ins Göttliche zu erheben.
Von der Kompositions-Struktur her setzt dieses Vorspiel (was noch die Form eine Ouvertüre hat) strahlend ein, was den Stolz der Zunft der Meistersinger symbolisiert.
Festlich bewegt und majestätisch dahinschreitend, löst es sich zögerlich und weich auf, die Trompeten schmettern dann eine Art wuchtigen Marsch, was den finalen Aufzug der Meistersinger auf der Festwiese symbolisieren und antizipieren soll (?).
Ausdrucksvoll, fast sehnsüchtig, so hat es Wagner selbst gefordert.
Eine weitergehende Analyse dieses oft besprochenen Vorspiels will ich mir sparen – es ist, und das lässt sich nicht leugnen, ein polyphones (mehrstimmiges) Kunststück ersten Ranges.
Im Anhang ein Hörbeispiel dieses Wunderwerkes der Musik.
Und welche Szenerie hätte als Inspirationsquelle besser gepasst, als der Blick von dem Balkon dieses “Zukunftsschlösschens” in abendlicher Stunde bei einem Sonnenuntergang mit dem Blick über den Rhein…(?)
Geschichtlich ging es dann 1889 nach Wagners Tod so weiter, dass ein Zementforscher mit dem Namen Rudolf Dyckerhoff die Villa erwarb und sich hier mit Familie niederließ.
Der nach Osten sich streckende Garten ist noch so erhalten, wie er damals war, der sich nach Westen streckende Teil des Gartens wurde allerdings nach für nach in den letzten Jahren mit Villen bebaut.
Man kann somit die ganze Pracht des Anwesens, wie es bei Wagners Aufenthalt dort ausgesehen haben muss, nur erahnen.
Man sieht, dass Künstler und Schöpfer immer eine geeignete Kulisse brauchen, um ihre Werke richtig niederzulegen.
An diesem lauwarmen Nachmittag Ende Mai diesen Jahres, ging ich wie verklärt die unter der Villa her führende Promenade auf und ab und hatte immer die Motive des berühmten und majestätischen Vorspiels im Ohr.
Der Weg zurück ins würdevolle Wiesbaden führte an blühenden Rosenhecken und prachtvollen Villen vorbei.
Wieder im Hotel angekommen, setzte ich mich sofort an eine Tisch und wie urplötzlich kam es aus mir heraus – ich verfasste diesen Beitrag wie ich ihn in trüben Tagen schon vor meinem geistigen Auge hatte und zwar so, wie Sie ihn jetzt in diesen holden Zeilen auf meinen Blog lesen können und zwar für immer und für alle Ewigkeit … Amen.
“Verachtet mir die Meister nicht
und ehret mir die Kunst
Was ihnen hoch zum Lobe spricht,
fiel reichlich Euch zur Gunst!”
(3. Act, 5. Scene)
*********************
*zum Thema Inspirationslegenden-Bildung sh. auch meine Beiträge :
Literatur :
Markus Kiesel
“Wandrer heißt mich die Welt“
Auf Richard Wagners Spuren durch Europa
ISBN : 9783940768803 Deutsch 2019