Tasso – Goethe – Wagner – Nietzsche
“Das Sorrent-Schock-Erlebnis”
Es gibt Städte, in denen sich mehrere großen Namen vereinen, obwohl diese Städte oftmals kaum eine größere Bedeutung haben und man vermutet auf den ersten Blick gar nicht die tiefere Bedeutung dieses Ortes.
Und so eine Stadt ist SORRENT am Golf von Neapel.
Eine mittelgroße Stadt – eher ein Ort mit tief herabstürzenden Tuffstein-Felswänden zum Meer hin.
Wenn man sich von Neapel mit dem Schiff Sorrent nähert, sieht man 40 Meter hohe Steilwände mit Luxus-Hotels, die über dem Abgrund zu hängen scheinen.
Wenn man die Fähre im Hafen (Porto di Sorrento) verlässt, fragt man sich unwillkürlich, wo eigentlich Sorrent ist (?)
Sorrent war der Startpunkt meiner Amalfiküsten-Wanderung im September 2012.
Bei den Vorarbeiten war mir auf Fotos von Sorrent aufgefallen, dass es stark aufsteigende Straßen gibt, die wie durch eine tiefe Schlucht nach oben führen, wo es kaum die Möglichkeit gibt, zu Fuß entlang zu gehen.
Denn, was man normalerweise von Sorrent kennt, ist die Altstadt mit obligatorischen Gassen und Souvenirläden, einer stark befahrenen Verkehrskreuzung, ockerfarbene Häuser, eine mittelgroße (besser mittelkleine) Kathedrale und dauerhaftes menschliches Treiben.
Doch um in den “Genuss” dessen zu kommen, muss man erst einmal einen gewissen Aufstieg über schluchtenartige Haarnadel-Kurven bewältigen, bei dem man immer nur nach oben schaut, allerdings muss man besser aufpassen, dass man heil oben ankommt, weil diese Straße keinen Bürgersteig hat.
Wenn man dann oben ist, empfängt einen doch ein eher grossstadtähnliches Treiben mit hupenden Autos, kreuz und quer laufenden Passanten und Politessen, die an der sehr befahrenen Kreuzung den Verkehr zu lenken versuchen.
Die Halbinsel ist ja nach Sorrent benannt, nämlich Sorrento Peninsula, und dies hat auch einen Grund.
Sorrent (oder auch Sorrento) ist durch seine günstige Lage neben Neapel die Haupt-Hafenstadt am Golf von Neapel und für den Golf von Salerno.
Von hier aus ist die Märcheninsel Capri gut zu erreichen und genauso bietet Sorrent den Übergang zur berühmten Amalfiküste.
Zu abendlicher Stunde muss hier ein herrlicher Ausblick auf den Golf von Neapel und auf die entfernt liegenden Inseln Ischia und Procida herrschen.
Da weiß man auch, warum sich die Luxus-Hotels direkt oberhalb der Steilklippen angesiedelt haben.
Neben dem touristischen Treiben, wird alles auch durch ein starkes Verkehrsaufkommen geprägt, was sich am Piazza Tasso bündelt.
Und dieser Name steht für den großen Sohn der Stadt, einem der eingangs erwähnten bedeutenden Namen, die Sorrent hervorgebracht hat…
…nämlich TORQUATO TASSO.
TORQUATO TASSO (1544–1595), in Sorrent geboren, ist ein Dichter der Gegenreformation, der mit seinem Werk “La Gerusalemme liberata” (eigentl. “Das befreite Jerusalem”) bekannt geworden ist, an dem er 15 Jahre gearbeitet hat und das er 1574 veröffentlichte.
Tasso litt den größten Teil seines Lebens an einer Geisteskrankheit, die man aus heutiger Sicht als Schizophrenie einstufen würde, die ihn allerdings körperlich nicht krank erscheinen ließ.
Es zog ihn ein Leben lang an den Hof nach Ferrara , wo eine Beziehung zur jungen Prinzessin von Este, der Schwester des Herzogs, vermutet wird.
Zum Liebling des Volkes wurde Tasso eher durch sein trauriges Leben der Geistesgestörtheit, des Exils, der Gefängnishaft, der Armut und der immer wieder sich zerschlagenden Hoffnungen.
Hier in seiner Vaterstadt Sorrent ist dem Dichter nicht nur ein Platz (P.za Tasso), sondern auch ein Denkmal gewidmet.
Jetzt kommt allerdings unwillkürlich ein weiterer großer Name ins Spiel,
der die Person des Torquato Tasso für ein Werk adaptiert hat, und dies ist kein geringerer…
…als Johann Wolfgang v. Goethe.
Unser Goethe (wie man so schön sagt) nahm sich dieses Themas an und veröffentlichte seinen “Torquato Tasso” (Ein Schauspiel) im Jahre 1790, welches dann im Februar 1807 in Weimar uraufgeführt wurde.
Es spielt ja auf dem Lustschloss des Este, Schloss Belriguardo, in Voghiera 16 km unterhalb von Ferrara.
Bei Interpretationsansätzen (die einen an den Deutschunterricht in der Oberstufe auf dem Gymnasium erinnern), kann man erahnen (oder hinein interpretieren), dass Goethe die Figur des Tassos reizte, weil er in der Liebschaft Tassos mit der Prinzessin des Hofes in Ferrara, auch seine Beziehung zu Frau v. Stein am Hofe in Weimar zu erkennen glaubte (?).
Hineininterpretieren kann man natürlich vieles (im Deutsch-Unterricht war ich eigentlich immer gut), aber es liegt ja auf der Hand.
Außerdem erwähnt Goethe in einem Tischgespräch am 6. Mai 1829 :
“Ich hatte das Leben des Tasso, ich hatte mein eigenes Leben, und indem ich zwei so wunderliche Figuren mit ihren Eigenheiten zusammenwarf, entstand mir das Bild des Tasso, dem ich als prosaischen Contrast den Antonio entgegenstellte, wozu es mir auch nicht an Vorbildern fehlte. Die weiteren Hof‑, Lebens- und Liebes-Verhältnisse waren übrigens in Weimar wie in Ferrara.”
Dieses kann ja eindeutiger nicht sein…er fusioniert sich selbst mit der Person des Tasso.
Seine Liebesverhältnisse gibt Goethe wenigstens zu und verschweigt sie nicht.
Die Frage ist natürlich, warum Goethe bei seiner Reise durch Italien 1786–88 Sorrent (meines Wissens) nicht aufgesucht hat ?
Weder auf seiner Hinfahrt nach Sizilien von Neapel aus, noch auf seiner Rückfahrt.
Im Mai 1787 auf seiner Rückfahrt nach Neapel, geriet das Schiff ja in Seenot, so dass er wahrscheinlich froh war, als er wieder lebend in Neapel ankam.
Aber er besuchte Sorrent auch nicht bei seiner Hinfahrt, wo er das nicht weit entfernte Pompeji aufsuchte :
“Wir fanden gute, muntere neapolitanische Gesellschaft daselbst. Die Menschen sind durchaus natürlich und leicht gesinnt. Wir aßen zu Torre dell’ Annunziata, zunächst des Meeres tafelnd. Der Tag war höchst schön, die Aussicht nach Castell a Mare und Sorrent nah und köstlich. Die Gesellschaft fühlte sich so recht an ihrem Wohnplatz, einige meinten, es müsse ohne den Anblick des Meeres doch gar nicht zu leben sein…”
(“Italienische Reise”, 13. März 1787)
Goethes “Tasso” erschien 1790 und der Aufenthalt am Golf von Neapel war 1787.
Klar, war ja vorher…das Werk erschien (!) 1790, das sagt aber gar nichts, denn Goethe schreibt unter dem Datum des 30. März 1787 :
“Die zwei ersten Akte des Tassos, in poetischer Prosa geschrieben, hatte ich von allen Papieren allein mit über See genommen…”
Dieser Eintrag in der “Italienischen Reise” zeigt, dass Goethe am Werk aktiv arbeitete, als er am Golf weilte.
Warum er dann die Geburtsstadt Torquato Tassos nicht aufsuchte, ist natürlich komisch.
Der Name Sorrent kommt auch in der “Italienischen Reise” nur 5 oder 6 mal vor, dieses allerdings immer nur aus Distanz, also in weiter Ferne zu sehen…
Außerdem erwähnt er am 16. Oktober 1786 bei dem kurzen Aufenthalt in Ferrara bei dem ehemaligen Residenzschloss der Este, zum ersten Mal die historische Figur des Tasso.
Hier hat Goethe versucht, Spuren des historischen Torquato Tasso nachzugehen, die Tasso im Herrschaftsbereich hinterlassen hatte, was er (Goethe) allerdings schnell aufgab.
“Ariosts Grabmal enthält viel Marmor, schlecht ausgeteilt. Statt Tassos Gefängnis zeigen sie einen Holzstall oder Kohlengewölbe, wo er gewiss nicht aufbewahrt worden ist. Auch weiß im Hause kaum jemand mehr, was man will…”
(“Italienischen Reise”, 16. Okt. 1786)
Das Schloss Belriguardo, der Schauplatz seines Werkes, unterhalb von Ferrara, hat er nie besucht, obwohl er ja 1786 in Ferrara war und die 15 km ‘gen Süd-Osten auch noch hätte auf sich nehmen können.
Stattdessen setzt Goethe seine Route fort, indem er quasi in die Gegenrichtung ‘gen Westen nach Cento fährt und von da nach Bologna.
Den Handlungsort seines Werkes (“Tasso”) lässt er einfach am Weg liegen, obwohl er ja eigentlich im Mittelpunkt seines Interesses stehen sollte, vor allem, weil er ja an dem Werk arbeitete.
Manchmal sind die “Wege” großer Schöpfer nur schwer nachzuvollziehen.
Soweit unser Goethe…
Doch in SORRENT fand im ersten Hotel der Stadt, dem Grand Hotel Excelsior Vittoria, noch etwas anderes statt, und das weiß nicht jeder – nämlich ein denkwürdiges Treffen, was in die Geschichte eingegangen ist…
Denn in diesem Luxus-Hotel war das letzte Treffen von Richard Wagner mit Friedrich Nietzsche am 2. Nov. 1876 – für Wagnerianer bekannt, als “das letzte Treffen des Meisters mit Nietzsche in Sorrent”.
Das Ende der einstigen Sternen-Freundschaft hat natürlich wieder viele Legenden bis hin zu Lügen hinter sich hergezogen.
Dieses wurde durch Nietzsches Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche kulthaft nach-inszeniert (und gefälscht), und zwar dahingehend, dass bei einem abendlichen Spaziergang am Allerseelen (2. Nov.) 1876 über den Klippen von Sorrent, Richard Wagner auf das Thema seines noch in Arbeit stehenden “Parsifal” kam (nämlich über einen geistig-mythischen Universal-Zusammenhang, in den die Parsifal-Ästhetik gestellt werden sollte) und Nietzsche entsetzt und ablehnend in der Dunkelheit verschwunden sei (“Sorrent-Schock-Erlebnis”).
Dass Nietzsche die Ästhetik des Mitleids (im Parsifal) aus philosophischer Sicht ablehnte (“Mitleid ist Dekadenz”), ist bekannt, aber für eine streitende Entzweiung nach diesem Spaziergang, liegen keine Beweise vor.
Dies zeigen auch die Tagebücher Cosimas, die von einem schönen Spaziergang mit Freund Nietzsche schreibt und keinen Anlass hatte, hier Fälschungen vorzunehmen.
Hierüber ist viel geschrieben worden, genau wie über den Bezug Wagners und Nietzsches, trotzdem zeigt die (bewiesene) Tatsache, dass zu diesem Zeitpunkt (vor allem an diesem Abend) es zu keinerlei Auseinandersetzung kam, wieder einmal, wie schnell Legenden und Lügen in die Welt gesetzt werden und in die Geschichte eingehen, als Wahrheiten, die nicht stimmen.
Der eigentliche Bruch zwischen Wagner und Nietzsche kam dann erst einige Zeit später.
Dies zeigt, dass man Biographen und Meinungsmanipulatoren immer kritisch gegenüber stehen sollte.
Dieses wusste nun auch HerrRoth, als er die Klippen über Haarnadelkurven nach Sorrent hoch stieg, am frühen Morgen Mitte September 2012, also einige Jahre nach dem angeblichen “Sorrent-Schock-Erlebnis” Friedrich Nietzsches.
Von der in den Felsen hinein geschlagenen Straße sind, wenn man nach oben schaut, seitliche Räumlichkeiten des Luxus-Hotels aus der Froschperspektive zu erkennen.
Das erste Ziel meiner Amalfiküsten-Wanderung war natürlich das Grand Hotel Excelsior Vittoria, was man schon von der Fähre und vom Hafen aus steil über den Klippen thronend sieht.
Der eigentliche Eingang des Komplexes dieses geschichtsträchtigen Hotels ist nicht ganz einfach zu finden, vor allem im Strudel der Menschen und Autos.
Der Eingang ist vom bereits erwähnten Piazza Tasso aus, gekennzeichnet durch im Wind flatternde Fahnen.
Wenn man davor steht, glaubt man gar nicht, dass das der Zugang zu einem 5 Sterne Hotel ist, wo heute die Nacht zwischen 374€ bis 1.040€ kostet.
Es ist ein Hotel, was ja für den verschwendungssüchtigen Wagner wie geschaffen war.
Mir blieb allerdings mein obligatorisches “…do you have a room for me?” im Halse stecken.
Nachdem ich mich kurz verlaufen hatte, schlug ich dann erst die Hauptstraße (SS145) Richtung Osten ein, um dann über den Bergkamm Richtung Amalfiküste zu kommen – der Blick über die beiden Golfe (Neapel und Salerno) lässt einen auch ohne so viele bedeutende Persönlichkeiten zum Dichter werden.
Was lernen wir daraus :
“Die Größe des Dichters ist danach zu bemessen,
was er uns verschweigt”
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*Fotos Sorrent in meiner Bildergalerie Italien
*Fotos Amalfiküste in meiner Bildergalerie Italien :