“…seit dieser Empfängnis”
Bei der Phantasie von manchen Künstlern und Schöpfern kommt man bei der Rezeption ihrer Werke oft schon ins Staunen, egal ob es nun Maler, Schriftsteller oder Komponisten sind.
Aber einer hat bei dem “In-Szene-stellen” seiner Ideenquellen viele und vieles in den Schatten gestellt, viele ins Staunen versetzt und sogar (Musik-)Wissenschaftler oftmals Kopfzerbrechen bereitet, und zwar wie öfter schon besprochen, Richard Wagner.
Fast zu jedem Werk hat Wagner etwas erfunden oder hinzugedichtet, was man eine sogenannte “Inspirations-Legende” nennt.
Was ist dies ?
Der Schöpfer (in diesem Fall Wagner) nimmt sich prägnante Teile oder Passagen aus einem seiner Werke, die schon viele begeisterte Hörer und Verehrer ins Staunen versetzt haben, und gibt einen Grund vor, wie und wo diese entstanden seien.
Jeder Rezipient, vor allem von Wagners Werk, fragt sich, wo so ein genialer Schöpfer alle diese Ideen her hatte oder/und was hat ihn zu so einer Ausdruckskraft hingeführt und angeregt (?)
Und da kann natürlich nur einer eine Antwort geben, nämlich der Schöpfer des Werkes selbst.
Und hier war Wagner schon ein geschickter (und oft auch dreister) Fälscher und Selbst-Inszenator.
Dieses alles hat den Grund, die Genialität des Werkes noch stärker in Scenen zu stellen und aufzupuschen (wie man heute sagen würde).
Es wird das “Objekt” suggestiv mit etwas anderem verknüpft, sodass die Frage, wo er die Idee her hatte, beantwortet wird, und das von Künstler selbst.
Nur, dass es in den meisten Fällen bei Wagners Inspirationslegenden nicht stimmt, also gelogen oder zeitlich versetzt worden ist.
Oft handelt es sich bei Wagner um sogenannte “zeitversetzte Überraschungs-Semantik”.
Was ist das ?
Wagner muss ja irgendwann und irgendwo die Idee oder Inspiration gehabt haben, sonst würde es die jeweilige Passage ja gar nicht geben.
Nun versetzt Wagner einfach den Zeitpunkt der “Eingebung” auf einen anderen Zeitpunkt, als sie wirklich war.
Und dem nicht genug – Wagner erkennt geschickt die Sensations-Geilheit seines wissenden Publikums und baut eine plötzlich auftretende Überraschung ein (“…in dem Moment hatte ich die Idee!”).
Diese “Plötzlichkeits-Semantik” hat auch einen Grund und eine Bedeutung.
Wagner will seine Ideen in eine schon fast göttliche Eingebung erhöhen, um das Publikum noch stärker ins Staunen zu versetzen, als es schon ist.
Im Falle von Wagner Inspirationslegenden sei allerdings gesagt, dass er vieles aus dem Grund erfunden hat, um seinen Haupt-Sponsor Ludwig II. von Bayern zu verzaubern, damit dieser ihn auch weiterhin (finanziell) unterstützt – ganz schön dreist.
Auf Befehl Ludwigs sollte Wagner seine Autobiografie “Mein Leben” schreiben, was er dann auch tat, bzw. nicht tat, denn er diktierte sie seiner zweiten Frau Cosima.
Beim Abfassen dieses umfangreichen Buches in 2 Bände musste er natürlich bei der Version bleiben, die er dem König (per Brief) vormals auf die Nase zu binden versucht hatte, sonst wäre es ja aufgefallen, dass er gelogen hatte, bzw. es erfunden hatte.
Hier nun eine kleine Auflistung von einigen Wagnerschen “Inspirationslegenden”:
*Die Karfreitags-Legende (Parsifal) – 1857
*Die Vision von La Spezia (Rheingold-Legende) – 1853
*Die Erleuchtung von Biebrich (Meistersinger-Vorspiel) – 1862
*Die Klageweise Tristans (Tristan u. Isolde) – 1858
*Das Assunta-Erlebnis (Meistersinger) – 1861
Die Jahreszahlen beziehen sich auf den Entstehungszeitpunkt der Inspirationslegende mit dem in Klammern dahinterstehenden Werknamen, für den die Legende erfunden worden ist.
Um die es jetzt gehen soll, spielt in einer “Stadt”, die schon viele in Ihren Bann gerissen hat, nicht nur Wagner, nämlich VENEDIG.
Und hierbei geht es um das …
Assunta-Erlebnis von Venedig aus dem Jahre 1861
Ich erlaube mir hier, den Schöpfer in seiner Auto-Biografie selber zu Wort kommen zu lassen :
“Bei aller Teilnahmslosigkeit meinerseits muss ich jedoch bekennen, daß Tizians Himmelfahrt der Maria im großes Dogensaale eine Wirkung von erhabenster Art auf mich ausübte, so daß ich seit dieser Empfängnis in mir meine alte Kraft fast wie urplötzlich wieder belebt fühlte.”
“Ich beschloß die Ausführung der Meistersinger.”
Soweit der Schöpfer selbst.
Hierzu sind einige Erläuterungen nötig.
Richard Wagner war nie ein Freund der italienischen Malerei und hatte hiervon auch nur wenig Ahnung – für ihn gab es eigentlich nur ein Kunstwerk, und dies war und ist das seinige.
Die Hintergrund-Geschichte ist die, dass die befreundete Familie Wesendonk, die immer nach großen Werken strebte, Wagner schon fast genötigt haben muss, einmal mitzugehen, was ihn eigentlich gar nicht interessiert (“…bei aller Teilnahmslosigkeit meinerseits…”).
Er ging mürrisch mit.
Bei der Abfassung der Auto-Biografie setzt er den Ort des Geschehens in den Dogenpalast, wo das Bild angeblich gehangen haben soll.
Das ist der erste Fehler, denn das Bild hing zu diesem Zeitpunkt (1861) nicht im Dogenpalast, sondern in der Gallerie dell’Accademia in Dorsoduro an der Accademia-Brücke.
Später revidiert er diesen Fehler mit dem Argument, dass er sich vertan hätte – na ja, Irren ist menschlich und das kann ja auch Wagner passieren.
Wagner hatte kurz vorher seinen Verleger (Schott) wie immer um Geld gebeten, um seine Arbeit an den “Meistersinger von Nürnberg” fortsetzen zu können.
Das heißt, dass das Thema “Meistersinger” brandaktuell war, somit bot sich eine gute Gelegenheit an, das ganze Projekt durch eine innere Eingebung in ein helleres und glaubhafteres Licht zu stellen, quasi ein inszenierter kreativ auslösender Moment, der sich dann ja in Venedig anbot.
Jetzt haben sich natürlich unzählige Wagner-Forscher und Musikwissenschaftler vieler Jahre Gedanken gemacht, was Tizians grandioses Bild mit der “Meistersinger”-Komposition und ‑Konzeption zu tun haben könnten (?)
Hier einige Versuche der Erläuterung :
“… die erste und einzig wahre Liebe meines Lebens”
Wagners “Liebe” zu der jüngeren Frau des Schweizer Industriellen Otto Wesendonk war eher platonischen Charakters (oder Wunschdenken).
Er bezeichnet Mathilde als die “einzig wahre Liebe seines Lebens” – sie wird als auslösender Faktor für die “Tristan”-Komposition bezeichnet und ihr ist der erste Act der “Walküre” gewidmet.
Diese Person muss schon eine große Bedeutung gehabt haben, außerdem war sie wesentlich jünger als Wagner (was Musen so an sich haben) und hatte ein zart geschnittenes Gesicht, kurz gesagt, eine Schönheit wie in einem Märchen.
Wenn man sich Tizians Gemälde einmal genauer ansieht, so könnten die Gesichtszüge auf Mathilde zu mindestens hinweisen (was allerdings als gewagte These schnell wieder vom Tisch ist).
“…bombastische Werke”
Wagners “Meistersinger” sind ja ein bombastischer Werk von fast 5 Stunden mit den meisten Statisten auf der Bühne und was zu Lebzeit des Schöpfers neben dem “Rienzi” das populärste war.
Genauso wird man vor Tizians Assunta stehend schon stumm über die immensen Maße des Bildes (6,90 m x 3,60 m) und man fragt sich, wie in damaliger Zeit (1516) ein Künstler so ein Werk schaffen konnte (?)
Hat also die Bombastizität des Gemäldes Wagner an die Bombastizität seines Werkes erinnert …?
“…die Ausführung der Meistersinger”
Außerdem heißt es ja “…die Ausführung der Meistersinger”.
Wohlgemerkt “Ausführung” – nicht “Aufführung”.
“Ausführung” bedeutet einen langlebigen Plan, vorbereitende Gespräche etc. in die Realität umsetzen, also zu Papier bringen, letztendlich festhalten oder festlegen.
Solche vorbereitende Gespräche könnten natürlich auch mit Mathilde stattgefunden haben (was mir nicht bekannt ist).
Es kann alles, vor allem bei einem Schöpfer mit so einer Phantasie wie Richard Wagner.
“Aufführung” hieße, das bereits Geschaffene auf die Bühne zu bringen.
“…Aufenthalt in Marienbad”
Die nächste These ist folgende.
Wagner weilte 1845 im Kurbad Marienbad in Böhmen, wo er den Plan der “Meistersinger” entworfen haben soll.
Und der Name “Marienbad” blühte dann in Wagners Gedächtnis wieder auf, als er Tizians Maria in die Augen schaute (?)
Eine nicht haltbare These, die nur auf der Namensgleichheit beruht.
Dies alles sind Vermutungen, die einiges Phantasievolles an sich haben, aber sie sind sehr allgemeiner Art und “Allgemeines” ist für so ein spezifisches Thema zu ungenau.
Der Wahrheitsgehalt dieser “Tunnelforschung” lenkt sich eher zur Wahrheit, wenn man bedenkt, dass Wagner ein Meister der pathetischen Selbstinszenierung war.
Das heißt, etwas (oder sich selbst) geschickt in Scene setzen oder etwas so lenken, dass es noch immenser aussieht, als es schon ist.
Es bedarf schon etwas Überwindungskraft für einen nichtlügenden Menschen (wie mich) zu dem Ergebnis zu kommen, was immer verständlicher wird.
Denn die Ausführung der “Meistersinger” haben mit Tizians Assunta rein gar nichts zu tun !
Denn nach seiner Schilderung des Besuches des Dogensaales (falsch) lässt Wagner einen Absatz.
Dann kommt wie in Stein gemeißelt :
“Ich beschloß die Ausführung der Meistersinger.”
Zu beachten ist der Absatz, der den Entschluss von der vorherigen Handlung abtrennt.
Es ist hier die ungeheure Fähigkeit Wagners für theatralische Effekte zu berücksichtigen.
Ganz schlicht und einfach ist es ein schriftstellerischer Coup eines Ergusses, nämlich den Anblick der Maria als Auslösendes für die Umsetzung, bzw. die Weiterschaffung des bereits angefangenen Werkes fortzusetzen.
Das “Ausführen” findet nämlich kurz danach bei der Rückfahrt Wagners von Venedig nach Wien statt.
Wieder zitiere ich den Meister aus seiner Biographie :
“…verließ ich nach vier äußerlich wahrhaft trübseligen Tagen zur Verwunderung meiner Freunde plötzlich Venedig und trat, den Umwege zu Lande auf der Eisenbahnlinie folgend, meine lange graue Rückreise nach Wien an. Während der Fahrt gingen mir die “Meistersinger”, deren Dichtung ich nur noch nach meinem frühesten Konzepte im Sinne trug, zuerst musikalisch auf ; ich konzipierte sofort mit größter Deutlichkeit den Hauptteil der Ouvertüre in C‑Dur.”
Bei dieser “Ausführung” muss man sich als Eingeweihter schon manchmal ein Lachen unterdrücken.
Dieser oben zu sehende Absatz aus “Mein Leben” (Seite 906) soll nämlich das bombastische Ergebnis des Tizian-Ergusses sein – als solches ein bisschen mager, so eine Eisenbahnfahrt als Endergebnis dieses schon dramatisch-liturgischen Erlebnisses in Venedig zu sehen.
Aber irgendwann müssen solche Werke ja nun einmal im Kopfe des Schöpfers entstehen.
Wagner schreibt hier von der Konzeption der Ouvertüre, obwohl es gar keine Ouvertüre ist, sondern ein Vorspiel (!) – aber egal.
Nur wenn man nach vorne sieht, soll ja dieses Vorspiel ein Jahr später (1862) in Biebrich am Rhein entstanden sein.
“An einem schönen Sonnenuntergange, welcher mich von dem Balkon meiner Wohnung aus dem prachtvollen Anblick des goldenen Mainz mit dem vor ihm dahinströmenden majestätischen Rhein in verklärter Beleuchtung betrachten ließ, trat auch plötzlich das Vorspiel zu meinen “Meistersingern”, wie ich es einst aus trüber Stimmung als fernes Luftbild vor mir gesehen hatte, nahe und deutlich wieder vor die Seele.”
Also war nach dieser Beschreibung von 1862 der Erguss des Assunta-Erlebnisses hinfällig und wird in ein trübes Licht als fernes Luftbild gestellt.
Also doch nicht so toll mit Tizian - da fragt man sich als genauer Leser, wo Wagner denn nun wirklich die Idee hatte, denn hier hebt eine Inspirationslegende die andere auf (“mit größter Deutlichkeit” – “aus trüber Stimmung”).
Nach dieser langen Ausführung von Vermutungen, Thesen, Spekulationen zeigt sich aber abschließend etwas ganz anderes.
…seit dieser Empfängnis
Das Ungeheuerliche ist nämlich der Passus “…seit dieser Empfängnis”.
Empfängnisse gibt es in Wagners Werken als Erotiker der Weltüberwindung genug, da braucht man nur an die erotische Kraft des “Tannhäuser” zu denken.
Erotisches Feeling hatte Wagner ja nun, was manchmal schon an Pornografie grenzt.
Letztendlich ist folgende These am glaubhaftesten und logischsten, aber auch immer noch im Reich der Utopie.
Denn durch den Begriff “Empfängnis” gibt Wagners abgründige Identifikation mit der Gottesmutter zu erkennen.
Nur das ihm (Wagner) nun vermittelt über die Kunst die Empfängnis göttlicher Kraft zuteil kommt, und nur sein Werk es sein wird, was künftig eine Erlösung darstellen wird.
Das “Empfängnis” ist quasi die Einsetzung des Musikdramatikers als des neuen Mittlers zwischen der zu überwindenden Welt und dem Absoluten.
Wenn man jetzt noch etwas weiter schaut, so halten Briefe und Cosimas Tagebücher fest, dass Wagner bei dem Besuch italienischer Museen auch in Venedig mit der kunstinteressierten Frau immer mürrisch draußen blieb oder fehlte.
Und als er 1880 diesmal von Cosima überredet, wirklich in der Accademia vor dem Gemälde steht, soll er laut Literatur eher kritisch und abweisend sich geäußert haben, so als ob ihn das Bild von seiner Aussagekraft gar nicht interessieren würde.
Das widerspricht sich aber nun extrem mit der Version des Assunta-Erlebnisses von 1861 (“…eine Wirkung von erhabenster Art”).
Hieran sieht man, dass Wagner das eigentliche Ding an sich, in diesem Fall das Assunta-Gemälde, nur benutzt (man kann schon sagen missbraucht), um einzig und alleine seine Kunst in den Mittelpunkt zu stellen, denn sein Werk stellt alle anderen (egal von wem) in den Schatten.
Wieder in der Gegenwart stehend, schlug ich 158 Jahre später, bei meinem 5. Venedig-Aufenthalt in der zweiten Juli-Woche diesen Jahres (2019) meinen Weg ein durch das Gewirr der Gassen und Kanäle von San Polo oberhalb von meinem Sitz an der Zattere von Dorsoduro.
Denn das Gemälde Tizians hängt heute in der Basilica dei Frari, wo sich auch Tizians Grab befindet.
Geduld muss man in Venedig schon mitbringen.
Nur hatte ich bei den Aufenthalten in den Jahren 2007 und 2013 vor der Assunta stehend, nicht die Möglichkeit das Gemälde zu fotografieren.
In die Kirche hineindrängend, stürmte ich sofort in Richtung Assunta.
Mein Gang wurde immer langsamer, je näher ich dem Gemälde kam.
Denn vor der Absperrung ist ein Schild zu lesen, dass das imposante Werk zur Zeit von einer amerikanischen Fachfirma restauriert würde…
Wenn man aber seinen Blick hochrichtet, sah man es, allerdings hypergenau auf ein Laken gedruckt, als Überbrückung des Zeitraums der Restaurierung.
Wenn ich das Schild nicht gelesen hätte, hätte ich es gar nicht gemerkt, dass die wahre Assunta durch dieses Laken bedeckt war, damit man sie restaurieren konnte.
Tja, dachte ich, so wäre auch wahrscheinlich Wagner dieses “Empfängnis” nicht geglückt.
“Ich beschloss die Ausführung der Meistersinger”
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Fotos Venedig 2019
Literatur :
- Peter Wapnewski – “Der traurige Gott” (Berlin-Verlag 2001)
- Richard Wagner – “Mein Leben”
- wagnerspectrum Heft 1/2010 (“Wagner und die ital. Malerei”)
Weitere Beiträge zum Thema “Inspirationslegenden” R.Wagners :
- “Villa Wagner – Biebrich a. Rhein” (Mai 2019)
- “Liebethaler Grund – Sachsen” (1846/2005)
- “Villa Rufolo Ravello” (1880/2012)
- “Palazzo Giustiniani Venedig” (1858/2013)
Hinweis :
Das Beitragsbild oben ist aus einer Zeitschrift von mir entnommen, deren Name mir entfallen ist.
(Sonstiges / HerrRothBesucht)